Andächtig wartete man auf den Kopf des Kindes. Alle halfen Lilith beim Atmen, als beteten sie gemeinsam. Auch gepresst wurde gemeinsam, bis das Kind in ihre Mitte kam, aufgefangen von Jakobs Händen. Alle waren erleichtert und erstaunt, wie schnell es doch gegangen war. Nur Lilith war noch nicht am Ende und schrie noch einmal laut. Mit Zwillingen hatten Jakob und Lilith nicht gerechnet. Der Zweite kam fast noch schneller als der Erste. Fast wäre er auf dem harten Steinboden aufgeschlagen, wäre da nicht Liliths Mutter gewesen, die schnell und flink zur Stelle war.
Da der Krankenwagen auf sich warten liess, wollte Lilith die Kinder gleich taufen. Und obwohl das dem Pfarrer gar nicht passte, hob sie den Holzdeckel vom Taufbecken und bat Jakob, die Kinder ins geweihte Wasser zu tauchen. Die von der Käseschmiere noch glitschigen Wesen hatten keine Wahl. Sie mussten aus der Wärme direkt ins kalte Nass und wurden so für diese Welt abgehärtet. Namen gab man ihnen nicht. Das war wohl zu hart für die Kleinen, denn ihnen war nur ein ganz kurzes irdisches Leben beschieden.
Lilith erholte sich schnell und war bald nicht mehr müde und erschöpft. Jakob hingegen war es sehr. Ihn plagte der Gedanke an seinen teuflischen Handel, dass er Lilith, die ihm das Jawort am Ende nicht hatte geben können, an andere Männer verkauft hatte. Jakob suchte nach einer neuen Bleibe und nach Arbeit. Lilith war damit einverstanden, denn ihrer Arbeit konnte sie noch nicht wieder nachkommen.
Jakob fand schliesslich Arbeit auf einem Bauernhof, nicht allzu weit weg von der Stadt. Die Bleibe war ein Stöckli mit mehreren Räumen, Toilette, Dusche und einer Küche. Für Lilith war das ein Luxus, und am Anfang lief alles sehr gut. Jakob ging regelmässig zur Arbeit, und Lilith half der Bauersfrau im Garten, wenn sie Lust dazu verspürte. Doch schon nach einer Weile hatte der Alkohol die beiden wieder fest im Griff. Man vertrieb sie vom Hof und aus dem Stöckli. Sie fanden abermals eine neue Bleibe, die aber mehr schlecht als recht war.
Lilith nahm ihre Arbeit wieder auf, und die Herren lösten nun bei Lilith ein, was sie schon im Voraus bezahlt hatten. Lilith und Jakob feierten immer verruchtere Feste. Würde und Moral gab es in ihrem Leben nicht mehr. Die Liebe oder das, was Liebe hätte sein können, hatten sie beide vergessen. Lilith wurde wieder schwanger, und wieder zogen sie um, diesmal mit Kind. Arabat hiess es.
Als Lilith wieder schwanger war, wusste sie nicht, wer der Vater war. Sicher war nur, dass ihr erstes Kind das von Jakob war. Als Lilith die Schwangerschaft bemerkte, wollte sie das Kind nur loswerden. Sie versuchte es mit Schlaftabletten und Alkohol, doch es gelang ihr nicht, weil sie zu wenig davon nahm. Lilith hatte Angst, sie könnte selber sterben. Sie versuchte es damit, die Treppen hinunterzufallen, bis sie sich einen Rippenbruch holte. Doch das Kind in ihr war fest entschlossen, Liliths Unterfangen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Lilith versuchte, es mit einer Stricknadel aus sich herauszubekommen, was ihr einen Spitalaufenthalt und lange Bettruhe brachte. Lilith war fast im siebten Monat schwanger und die Ärzte versuchten, das Kind zu retten. Und es half kräftig mit, weil es für sich entschieden hatte, das Licht dieser Welt zu erblicken. Die Ärzte hatten Lilith klipp und klar gesagt, sie hätte Glück, wenn es ein gesundes Kind würde. Das Kind hatte gewonnen, und Lilith war verzweifelt, fand sich aber damit ab, dass es nun wohl auf die Welt kommen sollte.
Lilith bekam Besuch von der Behörde der Gemeinde, in der sie gerade lebten, und das gefiel ihr überhaupt nicht. Man schlug ihr vor, den Buben in einem Heim unterzubringen, und legte ihr ans Herz, das Kind, das sie erwartete, zur Adoption freizugeben. Lilith wollte nicht und bekam es mit der Angst zu tun, solche Angst, dass sie noch am selben Tag den Wohnort wechselte, ihre drei Zuhälter immer im Schlepptau. Einer war Pietro aus dem Tessin, einer Kurt aus dem Berner Oberland, und der Dritte war Jakob. Alle kassierten ein, und wenn sie genug hatten, verliessen sie sie für ein paar Tage oder Monate, damit der nächste wieder sein Geschäft machen konnte. Waren sie knapp bei Kasse, tauchten sie wieder auf. Sie reichten Lilith in der ganzen Schweiz an ihren Stammtischen herum.
Lilith war abgestumpft, verbraucht und hatte alles Mitgefühl verloren. Luisa kam im November 1961 in einem kleinen Dorf zur Welt, ohne Arzt und Hebamme. Lilith wollte nicht ins Spital, weil sie fürchten musste, dass man ihr das Kind wegnehmen würde. Lilith roch von nun an immer, wenn die Behörden bald vor der Tür stehen würden. Sie zog mit ihren beiden Kindern von einer Gemeinde in die andere und konnte sich so der Justiz entziehen.
Auf Luisa folgten noch Mascha, Alioscha, Mara, Mira, Lisa und als Letztgeborene Veronica.
Ich, Luisa, liebte meinen Bruder Arabat, der sehr ängstlich war, blond gelocktes Haar hatte und wie ein blasser Engel aussah. Wir lebten seit Kurzem in einem Häuschen am Dorfrand, auf einem Fabrikareal, wo es immer nach Eisen roch. Wir waren weggezogen aus einem Haus, das meine Mutter Lilith nicht behalten durfte. Denn es gab dort keinen Strom und kein Wasser, und es war nicht schön dort für uns Kinder.
Ich war blondrot, klein, frech und grenzenlos lebendig. Arabat und ich stritten uns nicht, wir spielten miteinander, und ich gab den Ton an. Meine Mutter Lilith durften wir nicht stören, wenn sie Besuch von Männern hatte. Wir durften dann nur in unserem Zimmer sein. Arabat hielt sich an ihre Anweisungen, ich, Luisa, aber nicht. Mir war im Zimmer langweilig. Manchmal hatte ich Hunger, eigentlich immer, denn Mutter Lilith kochte selten für uns. Also musste ich mir selbst helfen und in der Küche nach etwas Essbarem stöbern. Tisch und Stühle halfen mir, in die höheren Gegenden zu gelangen. Am Abend vor dem Schlafengehen bekam Arabat immer noch Muttermilch. Arabat genoss diese Zweisamkeit am liebsten ungestört, weil die Mutter am Tag kaum Zeit für uns hatte. Ich gewährte ihm seine Zeit. Dieses Muttermilchritual gefiel mir nicht. Ich ertrug diese Nähe nicht.
Mutter Lilith zwang mich manchmal trotzdem an ihren widerlichen Busen, an dem so mancher nuckelte und der so voller verschiedener Gerüche war. Da half nur kräftiges Beissen, um dieser Nähe zu entkommen. Sie suchte sie immer wieder, doch ihre Zuckerstimme nützte nichts und auch nicht ihr süsses Geschwätz: «Meine Prinzessin, mein Schätzeli und Zuckerpüppchen!»
Arabat schlief oft an ihrem Busen ein. Mich brachte Lilith wortlos zu Bett, was wohl als Strafe gedacht war, weil ich ihren Busen ablehnte. Wir standen oft wieder auf, um hungrig in der Küche etwas Essbares zu suchen. Egal ob es ein Glas Gomfi war oder einfach ein wenig Brot, wir assen alles, was unsere Augen sehen und unsere Hände greifen konnten.
Lilith war nachts auf der Jagd nach Männern, und wir waren allein. Wenn gerade ein Zuhälter bei uns wohnte, waren wir bei dem. Die Zuhälter hatten nicht viel übrig für uns Kinder. Sie sassen am liebsten vor einem Harass Bier und Frauen, die wir nicht kannten. Wir mussten nur leise genug sein, dann konnten wir machen, was wir wollten. Wenn kein Zuhälter da war und wir ganz allein waren, ging es laut zu und her. Die Küche wurde zum Bergsteigerparadies. Arabat und ich rückten den Küchentisch vor den grossen Schrank, wo Mutter Lilith meistens ein Kilo Zucker, Schokolade, Brot und verschiedene Gomfis aufbewahrte. Dazu eine Unmenge Raucherwaren und Flaschen mit stark riechendem Wasser, manchmal war es sogar farbig. Wenn wir es probierten, brannte uns der Mund, und wir mussten heftig husten. Und wenn wir zu viel von diesem Zeug getrunken hatten, mussten wir kötzeln. Um an die Flaschen heranzukommen, stellten Arabat und ich einen Stuhl auf den Tisch und auf diesen Stuhl nochmals einen Stuhl. Diese Sache mit dem Tisch und den Stühlen war unser Abenteuer. Wir waren auf Bergtour. Weil Arabat Angst hatte, den Berg zu besteigen, stürmte ich den Gipfel und fiel manchmal auch herunter, wenn er zu beben anfing. Mit der Zeit aber wusste ich genau, wie ich mich hinaufbewegen musste.
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