Alle sassen noch immer um den grossen Tisch mit dem frisch bestückten Kerzenständer. Die Deckenlampe wurde gelöscht, damit das Kerzenlicht noch mehr zum Leuchten kam. Jakob gefiel es, in die kleinen Flammen zu schauen. Sie flackerten sanft und kaum merklich. Doch wenn er sich auf sie konzentrierte, erkannte er ihren Tanz. Ihm wurde ganz warm im Herzen, und er konnte Liliths Duft riechen.
Der Rabbi erzählte von einer älteren Frau, die am Stadtrand mit ihrer Tochter in einem kleinen Häuschen wohnte, neben dem ein Wohnwagen stand. Das bescheidene Häuschen bot den beiden Frauen nicht allzu viel Raum. Es gab kein heisses Wasser und keine richtige Küche. Es gab auch keine richtige Toilette. Waschen musste man sich in der Küche in einem Becken, das man auch für das Geschirr und die Wäsche benutzte. Es gab so etwas wie eine Wohnstube mit einem kleinen Holzofen darin. Hinter einem rosaroten, mit Blumen bestickten Vorhang war ein winziger Raum, in dem ein grosses Bett stand. Es war ein Bett für Eheleute, doch es war so, dass Mutter und Tochter es sich zum Schlafen teilten. Ausser dem Bett war in dem Raum nur gerade noch Platz für ein grosses Bild der Muttergottes in blauem Schleier und weissem Kleid, ein rotes Herz auf der Brust und auf dem Kopf einen übergrossen, goldenen Kranz.
Jakob gefiel, was der Rabbi zu erzählen wusste. Seine Fantasie erwachte, und er stellte sich vor, wie er mit Lilith in diesem Bett lag und wie die Muttergottes mit rotem Herz und lieblichem Blick auf sie beide herunterschaute.
Der Rabbi berichtete, das Zimmer an diesem erbärmlichen Ort sei durchschnittlich sauber gewesen. Die Wäsche der Frauen habe verstreut auf dem Wohnzimmerboden gelegen, alles durch- und übereinander, doch habe die Wäsche trotz Unordnung nicht schlecht gerochen. Alle Schuhe seien in Reih und Glied gestanden, sauber geputzt und in vollem Glanz, jedoch alle mit hohen, spitzen Absätzen. Diese Schuhe waren pink, rot, himmelblau und schwarz. Dem Rabbi hatten sie einen besonderen Eindruck gemacht. Auf dem Tisch war laut dem Rabbi das reinste Chaos von Flaschen, Tellern, Tassen und Gläsern, halb voll mit Flüssigkeiten, die sich nicht zuordnen liessen. Der Raum roch nach Rauch, die Aschenbecher waren randvoll. Neben dem Ofen lagen Zeitschriften und Zeitungen, die nicht aussahen, als hätte man sie gelesen. An dem Ort, den die Frauen ihre Küche nannten, lagen Lippenstifte und Schminke.
In Jakobs Ohren erzählte der Rabbi aus einer Wundertüte. Dieser Ort, wo seine Herzensdame wohnte, schien ihm höchst reizvoll zu sein. Er musste ihn mit eigenen Augen sehen, denn er wusste, dass der Rabbi gerne Geschichten erzählte und so einiges auszuschmücken pflegte. Solch eine Unordnung, wie er sie geschildert hatte, konnte bei einer so schönen Frau mit solch bunten, spitzen Schuhen doch nicht herrschen. Jakob unterbrach den Rabbi mit der Frage, was es denn mit dem Wohnwagen beim Haus auf sich habe. Aber Jakobs Eltern wollten nicht, dass man auch noch über den Wohnwagen redete. Ihnen war das Häuschen wohl schon genug, um zu wissen, mit wem ihr Sohn es zu tun gehabt hatte.
Der Rabbiner jedoch fand, Jakob sollte wissen, dass der Wohnwagen den beiden Frauen als Arbeitsort diene. Aber Jakob verstand das nicht so recht. Der Rabbi erklärte weiter, die ältere Frau sei für ihre Liebesdienste bekannt. Und da Jakob ein junger Mann war und auch als Tagträumer nicht ganz weltfremd, sagte er: «Eine Hure!» Die Familienrunde erschrak ob diesem Wort, wie konnte der junge Jakob es nur laut aussprechen. Man war betreten und schaute beschämt zu Boden. Jakob kam es vor, als atme keiner mehr am Tisch. Was er mit diesem Wort bewirkt hatte, gefiel ihm. Für einmal hatte nicht er sich verkrampft, sondern alle anderen.
Plötzlich aber schoss es ihm durch den Kopf, dass laut der Geschichte des Rabbi auch Lilith eine Hure sein musste. Bei diesem Gedanken begann das Bild der schönen Blonden mit den roten Lippen und Nägeln zu bröckeln. Der Gedanke an Lilith durchbohrte sein Herz wie ein Schwert. Jakob begann zu weinen. Er glaubte, sterben zu müssen, sollte Lilith eine Hure sein. Der Rabbi und die Eltern meinten, nun hätte Jakob seine Lektion gelernt.
Jakobs Vater sprach mit dem Rabbiner ein Gebet, und kurz darauf verliess dieser das Haus. Jakob verzog sich in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Als alles ganz dunkel und ruhig war, schlich er sich in die Nacht hinaus, um in der Stadt das Abenteuer zu suchen. Er lief dorthin, wo er Lilith getroffen und die Schlägerei stattgefunden hatte, und trank ein Glas nach dem anderen, bis er den Schmerz nicht mehr spürte. Von nun an begann Jakob, noch früher am Tag und noch mehr zu trinken.
Die Mutter spaltete Holz für den kleinen Ofen im Häuschen. Ein Bauer hatte das Holz für sie aus seinem eigenen Wald geholt. Es war die Bezahlung für die Liebesdienste, die Lilith ihm geboten hatte. Mit Geld konnte er sie nicht bezahlen, denn seine Frau durfte von seinem lustvollen Treiben natürlich nichts wissen. Aber die beiden Frauen in dem kleinen Häuschen mussten schliesslich auch über die Runden kommen. Und da sie keinen Zuhälter hatten, war das Geschäft mit der Liebe für sie nicht ganz einfach.
Genau genommen war die Mutter die Zuhälterin, denn Lilith musste ihr das Geld, das sie verdiente, abgeben. Die Mutter sah nicht mehr so frisch aus wie Lilith, die Tochter war für die Männerwelt noch reizvoll. Lilith machte sich hübsch zurecht für die Männer. Sie wusch sich mit einer süsslich riechenden Seife, deren Duft die Männer mehr liebten als Parfüm. Lilith wählte ihre Aufmachung je nach Freier.
An diesem Tag war hoher Besuch angesagt, und dafür putzte Lilith sich richtig heraus. Sie benutzte sogar Puder und schminkte sich ganz dezent. Ihr langes, blondes Haar band sie zu einem Pferdeschwanz. Sie benutzte rosa Lippenstift, den sie besonders liebte, denn das Rosa passte zu ihrem Gesicht. Sie zog fleischfarbene Strümpfe an, einen hellblauen Mini und eine rosarote Bluse. Und zum Schluss schlüpfte sie in die hellblauen, spitzen Stöckelschuhe. Lilith gefiel sich sehr.
Während sie sich entzückt im Spiegel betrachtete, schweiften ihre Gedanken zu Jakob, der seit jener Nacht immer wieder in ihre Welt hineindrängte. Sie fragte sich, ob sie Jakob so wohl auch gefallen würde. Denn sie wusste über diesen Mann nur, dass er sich ihretwegen prügelte, was noch keiner für sie getan hatte. Dieser Gedanke weckte in ihr die Sehnsucht nach Jakob und den Wunsch, ihn wiederzusehen.
Sie öffnete den Pferdeschwanz wieder, sodass die blonden Locken ihr Gesicht einrahmten und sie aussah wie in der Nacht, als sie Jakob getroffen hatte. Sie sehe aus wie ein Engel, hatte er zu ihr gesagt, und das gefiel ihr. Sie träumte davon, der Muttergottes auf dem Bild ähnlich zu sehen.
Das laute Rufen ihrer Mutter riss sie aus ihren Träumen. Der hohe Besuch war da und verlangte nach ihr.
Lilith vergass, ihr Haar wieder zusammenzubinden. Das gefiel der Mutter gar nicht, sie wetterte vor dem Besucher und jagte Lilith mit einem Holzscheit ins Haus zurück. Lilith machten die Ausbrüche der Mutter nichts aus, denn sie kannte von ihr nichts anderes. Jeder Kunde hatte seine Vorlieben, die man beachten musste, um ihn nicht zu verärgern. Und es war wichtig, dass jeder Kunde wiederkam. Dieser liebte es, wenn Lilith für ihn das kleine Mädchen spielte, und er bezahlte viel Geld für dieses Kinderspiel. Andere Kunden waren mit weniger zufrieden und nahmen Liliths Dienste auch nicht so ausgiebig in Anspruch wie dieser.
Seit sie Jakob getroffen hatte, war Lilith oft in Gedanken versunken. Manchmal vergass sie, dass sie sich nicht für Jakob herausputzte, sondern für ihre Männerkundschaft.
Lilith zog noch schnell die Lippen nach und trat wieder vor das Haus zu ihrem Besucher. Heute hatte der nicht allzu viel Zeit, und Lilith musste sich beeilen, um ihn zufriedenzustellen. Die Mutter ermahnte sie, ihn nicht zu verärgern, denn er zahle heute eine volle Stunde, obwohl er nur die halbe in Anspruch nehme.
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