Lilith gefiel es gar nicht, wenn dieser Kunde mit wenig Zeit kam, denn dann war er besonders brutal. Sie mochte es viel lieber, wenn ihre Kunden Zeit hatten, dann waren sie meist liebevoll und redeten mit ihr. Dieser Kunde aber schlug dann so heftig zu, dass sie manchmal blutete am Ende. Sein Wunsch war, dass sie nicht schrie, obwohl ihr zum Schreien war. Sogar von draussen konnte man die Schläge hören, doch die Mutter verschwand dann immer im Häuschen und braute sich einen starken Kaffee mit einem grossen Schuss Kirsch.
Lilith verschwand also mit dem Kunden im Wohnwagen, und die Mutter rief ihm noch nach, er solle nicht zu fest zuschlagen, da Lilith noch andere Arbeit vor sich habe. Nach einer halben Stunde ging der Mann wieder, doch Lilith kam erst nach einer Stunde aus dem Wohnwagen. Ihre Augen waren matt, der rosa Lippenstift verschmiert, ihr Haar durcheinander und ihr Körper gekrümmt. An ihrer rosaroten Bluse fehlten die Knöpfe, Laufmaschen liefen über ihre Strümpfe.
Lilith wusste, dass sie sich nach getaner Arbeit nicht bei der Mutter ausheulen konnte, sie müsste gleich nochmals Schläge einstecken. Langsam ging sie ins Haus und wusch sich mit viel Seife. Manche Stellen an ihrem Körper taten so weh, dass sie zusammenzuckte und leise winselte. Die Mutter gab ihr einen stark gekochten Kaffee mit viel Kirsch und sagte: «Stell dich nicht so an, du bist keine Prinzessin. Eine Hure zu sein ist harte Arbeit und ehrlich verdientes Geld.»
Der heisse Kaffee tat Liliths Lippen weh, doch der Kirsch nahm ihr bald die Schmerzen. Lilith dachte an Jakob, der nicht zugelassen hätte, dass man so schlecht mit ihr umging. Er hätte sich vor sie gestellt und sich mit dem Kunden geschlagen. Sie musste Jakob unbedingt wiederfinden.
Der Mann, der sie so unmenschlich behandelte, war der Wirt und Veranstalter des Fasnachtsballs. Er hatte der Mutter von Lilith und Jakob erzählt, und sie freute sich gar nicht darüber. Lilith musste sich von der Mutter anhören, diesen Jakob könne sie gleich vergessen, da er ihr Geschäft ruinieren werde. Als Mutter bestimme sie, mit welchem Mann Lilith zusammen sein dürfe. Sie sei für ein Leben mit vielen Männern bestimmt, nicht für einen einzigen Mann, denn ihre Schönheit sei ihr nicht umsonst gegeben worden. Wäre das nicht Liliths Bestimmung, dann hätte sie bestimmt keine Tochter, sondern einen Sohn geboren.
Lilith wusste selber nicht so recht, was sie mit Jakob und ihren Gedanken an ihn anfangen sollte. Sie kannte das schöne Gefühl, verliebt zu sein, nicht. In ihrer Welt sprach man nicht über solche Dinge, das passte nicht hinein. Liebe, das war nur eine Erfindung, um die Menschen einzuschränken in ihrer Lust. In Liliths Welt gab es nur Frauen, die mit sich tun und machen lassen mussten, was der Mann haben wollte. Die eigene Lust kannte sie nicht. Lilith wusste nichts von der Welt und kannte ausser einem Haufen Männer eigentlich nur ihre Mutter, ihr Häuschen, den Wohnwagen und die paar Kneipen, in denen sie verkehrte und wiederum nur Männer traf. Diese Männer erzählten ihr allerhand über ihre Frauen, doch waren es immer dieselben Geschichten. Sie gaben Lilith das Gefühl, nur sie sei eine richtige Frau, weil sie alles mit sich machen liess. Sie machte sich nicht viele Gedanken darüber, dass sie der Macht und Gewalt dieser Männer ausgesetzt war. Doch seit Jakob in ihre Welt getreten war, begann sie sanft, sich gegen die Mutter aufzulehnen. Und je mehr sich Jakob in ihren Kopf, ihr Herz und ihren Bauch schlich, desto stärker wurde ihre Rebellion.
Lilith wurde immer wütender auf ihre Mutter, weil sie, Lilith, die Männerarbeit erledigen musste. Ihre Mutter hatte nur noch selten Kunden, und wenn einmal einer für die Mutter kam, dann musste sie mit in den in den Wohnwagen, um die Hauptarbeit zu erledigen und den Kunden samt Mutter zu befriedigen. Das Geld, das sie so verdiente, steckte die Mutter ein. Um jeden Rappen musste sie betteln. Die Mutter kaufte mit dem Geld Alkohol und grosse Mengen Kaffee. Auch Lilith war sich das Trinken gewohnt, es liess sie ihre Arbeit mit den Männern leichter ertragen.
Liliths Herz sehnte sich sehr nach Jakob und Jakobs Herz nach Lilith, und beide wussten es nicht voneinander. Doch ihre Herzen wussten es. An einem Samstag machten Lilith und Jakob sich schön füreinander, in der Hoffnung, ihre Wege würden sich in der Stadt zufällig kreuzen oder sie könnten sich in einer Kneipe wiederfinden. Jakob hatte sich am Geld seiner Eltern vergriffen, um sich, wenn das Schicksal es wollte, grosszügig zu zeigen. Lilith hatte sich heimlich einen letzten Rest Geld aus der Dose genommen. Der Mutter sagte sie, sie gehe auf Werbetour für ihre Geschäfte. Sie glaubte ihr, weil Lilith sich besonders schön gemacht hatte.
Jakob und Lilith gingen beide gleichzeitig los. Das Städtchen war klein, und die Zahl der Kneipen war es auch. Doch Glück mussten die beiden trotzdem haben. Sie wussten, sie sollten die Finger voneinander lassen. Jakobs Familie war ebenso bekannt wie die stadtbekannte Hure. Jakob und Lilith gingen in Kneipen und tranken im Glauben, ihre Sehnsucht bringe sie einander mit jedem Schluck einen Schritt näher. Es blieb nicht bei einem Glas.
Lilith war in jeder Kneipe bekannt für ihre Dienste, und man zahlte kräftig, um sie vielleicht einmal etwas günstiger in Anspruch zu nehmen. Wenn Lilith schnelles Geld verdienen konnte, so hatte sie nichts dagegen. Um einen ihrer Freier auf die Schnelle zu bedienen, gab es immer wieder Gelegenheit. So musste sie der Mutter auch keine Rechenschaft ablegen und ihr das Geld nicht geben. Hatte Lilith einmal genug getrunken, konnte sie viele Männer auf die Schnelle befriedigen.
Lilith und Jakob hatten beide bis spät in die Nacht getrunken, ohne sich zu begegnen. Die Polizeistunde nahte, die Stühle wurden auf die Tische gestellt und die übrig gebliebenen Gäste gebeten, sich auf den Heimweg zu machen. Vereinzelt bewegten sich dunkle Gestalten durch die Schatten der Nacht, nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Manche pinkelten an die Strassenlaternen wie Hunde auf ihrer Nachtrunde. Doch in dieser Nacht konnte man zwei singende Stimmen hören. Die eine war ein bisschen höher als die andere, und beide tönten nicht ganz klar. Die höhere Stimme sang: «Er stand im Tor im Tor und ich dahinter!» Die tiefere sang: «Rote Lippen soll man küssen, denn zum Küssen sind sie da!»
Hin und wieder verstummten die Stimmen, wenn ein Auto vorbeisauste oder ein Hund zu bellen begann. Und dann war plötzlich Ruhe, kein «Er stand im Tor im Tor» mehr, keine «roten Lippen». Die zwei standen unter einer Laterne, Lilith und Jakob. Sie sahen sich an, und vier Sterne funkelten in diesem Augenblick so hell, dass man die Laterne getrost hätte löschen dürfen. Sie standen da und glaubten an ein Wunder. Ihre Hände bewegten sich aufeinander zu, berührten sich und hielten sich fest. Sie wollten sich nicht mehr loslassen, um den anderen nie mehr zu verlieren. Dann verschwanden Lilith und Jakob Arm in Arm glücklich schwankend in die Nacht, bis die Dunkelheit die beiden verschlang. Nach dieser glückseligen Nacht waren sie für immer verstossen.
Ohne Familienbande, versuchten Jakob und Lilith, einander Familie zu sein, so gut es ging. Lilith ohne ihre Mutter, die ihre Lebensbahn bestimmt hatte, und Jakob ohne seine Eltern und die jüdische Gemeinde, die für ihn stets die Kohlen aus dem Feuer geholt hatten. Beide waren nach dieser einen Nacht ganz auf sich selbst gestellt. Jakob und Lilith fanden ein kleines Zimmer mit Platz für ein Ehebett und einen Tisch mit vier Stühlen. Dusche und Toilette waren im Treppenhaus, ein Stockwerk höher. Warmes Essen gab es nicht, da eine Kochgelegenheit fehlte. Man ging für warmes Essen in eine Wirtschaft, was Jakob und Lilith nur recht war, hatten sie doch ausser ihren Saufkumpanen keine Freunde.
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