In den Spielen mit andern Kindern hielten wir unverbrüchlich zusammen. Einmal geriet ich mit einigen arroganten Neulingen in Streit und schwur dann, vorläufig durchaus nicht weiter mitzuspielen. Susanna trat mir bei und wir kamen überein, in die Heidelbeeren zu gehen. Kaum aber hatten wir zu Hause unsere Körbchen geholt und waren einige Klafter weit weg, als der ganze Kreis sich löste und in Auflösung begriffen uns nachzog, selbst die Störenfriede nicht ausgenommen, nur mit dem Unterschiede, daß diese scheu und demütig auf bedeutende Distanz zuhinterst blieben. Der Weg an den Bestimmungsort war ziemlich lang und führte an schroffen Abgründen vorbei durch einen dunkeln Wald. Und schon auf halbem Wege sahen wir, wie grauschwarzes Gewölk sich in immer dichtern Massen bedrohlich zusammenballte, und hörten, wie schon vereinzelte schwere Tropfen fielen. Ein Gefühl des Erbangens beschlich mich, wie ich es vordem noch nie gekannt hatte, und Susanna schmiegte sich in gleicher Ängstlichkeit an mich. Lautlos bewegte sich die ganze Schar vorwärts, der Wind aber toste heftig durch das Geklüfte, und einzelne Waldpartien erhielten jene weißliche Färbung, wie sie die Kehrseite der Blätter zeigt. Indessen des Windes Tosen stärker, das Geräusch der fallenden Tropfen hörbarer wurde, sagte Susanna mit plötzlichem Einfall: «Hör, Hansli, die Mutter hat schon gesagt, das Zanken sei Sündʼ und erzürne Gott; denk nun, ob er nicht über uns böse sei, daß solches Wetter kommt?» Die Sache erschien mir wahrscheinlich genug. «Wir wollen beten», sagte ich. – «Meinst, das helfe?» erwiderte Susanna, schon halb mißstimmt, weil es sie an die Schule gemahnte. «Allweg hilft das!» entgegnete ich, «wir wollen nur sofort anfangen, es müssen aber alle mitbeten. Hört!» rief ich, indem ich mich umwendete und ein wenig auf die Seite trat, «faltet die Hände, wir müssen beten oder das Wetter bringt uns um». Alle gehorchten aufs Wort. Ich trat wieder an die Spitze und betete ein langes Lied aus dem Gesangbuch laut vor. Wir waren in feierlichster Stimmung, ja selbst die Stimmen der übrigens recht harthölzernen Störefriede hoben sich gar vernehmlich heraus, und welchem ein tüchtiger kühler Tropfen auf dem Kopfe zerplatzte, dessen Stimme wurde einen Augenblick lauter, flehentlicher. Aber alle trugen sich mit der gewissen Zuversicht, daß es helfen werde. Wir waren jetzt mitten in den Wald und mit dem Liede zu Ende gekommen und hatten eine Strecke weit weder Wolken noch Himmel gesehen, nur des Sturmes Wehen hatte fort und fort um unsere Ohren gebraust. Wie freudiggroß war drum unsere Überraschung, als mit einemmale der tiefblaue Himmel durch die Bäume schimmerte und bald die mit Farrenkraut und Heidelbeerstauden bewachsenen Abhänge im vollsten Sonnenglanze vor uns lagen. Ja, da nahm Susanna meine Backen auch wieder zwischen die schmalen Hände und sagte so schmeichelnd, so schmeichelnd, wie nur sie es konnte: «Du bist doch ein guter Hansli!» Und da sie wußte, daß ich nicht der flinkeste Pflücker war, so half sie mir und warf je ihr drittes Händchen voll in mein Körbchen und doch war das ihrige noch vor dem meinigen gefüllt.
Um mein achtes Jahr erschien das erste von den Büchlein Zellbergers, welches in der Mundart geschriebene Szenen aus dem Volksleben enthielt. Man riß sich um den Kalender, der einige Proben daraus mitteilte, und wer es verstand, diese in dramatischer Form gehaltenen Schilderungen des unmittelbarsten, wirklichsten Lebens verständlich vorzutragen, der hatte an fröhlichen Zuhörern keinen Mangel. In Grünau wurden sie besonders gut aufgenommen, weil, wie man wähnte, in einem der Stücke eine Grünausche Persönlichkeit mitspielte, mithin auch der Dialekt rein der Grünausche war. Peters Jakob brachte die erste Nachricht von dieser Novität zu uns und schalt den Verfasser scherzweise einen «Leckersbub», der die Leute «mordsdings» auszuschänzeln wisse. Meines Vaters Neugierde hielt sich jedoch soweit in gemessenen Grenzen, daß er, zufällig bereits im Besitze eines neuen Kalenders, sich nicht so hoch verstieg, der lustigen Stücklein wegen noch für einen zweiten Kalender einen Batzen auszuwerfen, geschweige denn, das ganze Büchlein zu kaufen. Ich hielt daher bei Peters Jakob an, daß er es über sich nehmen wolle, mir das außerordentliche Vergnügen zu verschaffen, und er brachte mir wirklich das Büchlein irgend woher geliehen. Freudig, bevor ich zu lesen anfing, setzte ich Susanna davon in Kenntnis, und da ich ihr weis machen konnte, daß diese Leserei mit der obligatorischen in der Schule nicht die geringste Ähnlichkeit habe, so verstand sie sich dazu, meiner Vorlesung beizuwohnen. Wie sehr aber täuschte ich mich über den Erfolg! Ich hatte das Idiom noch nie geschrieben gesehen und verstand durchaus nicht, es zu lesen. Die Stube war von Leuten ganz gefüllt, welche alle auf das Wunder mehr oder weniger gespannt waren, und ich schämte mich auf den Grund der Seele, auch nicht eine einzige Zeile fertig lesen zu können. Was da gerutscht, gegähnt, geräuspert wurde, ist nicht auszusprechen, und endlich sagte der Vater, um die armen Seelen aus ihrer Pein zu erlösen: «Hansli, steck auf, selb ist jetzt das langweiligste Zeug, das ich schon gehört habe.» Jedermann stimmte bei, Susanna aber, die an meiner grünen Seite saß, war bei ihrem guten Gewissen sanft und selig eingeschlafen. Ich hatte sie noch nie schlafend gesehen, und sie erschien mir jetzt so fremdschön, daß ich über dem Genuß ihres Anblicks der erlittenen Beschämung völlig vergaß und es nicht im Geringsten übel nahm, als ein blasser Webergeselle mir das Büchlein aus den Händen nahm. Doch nun, was geschah? Während ich mich unverwandt an Susannas großen geschlossenen Wimpern und dem leicht geöffneten Rosenmunde weidete, begann der Webergeselle zu lesen und das hieß wohl mit neuen Zungen geredet, denn nun klang alles so real und natürlich, so fein der Wirklichkeit abgelauscht und dabei so komisch und spaßhaft, daß die ganze Gesellschaft zu «pfuttern» und zu lachen begann. Ich traute meinen Ohren nicht, der blasse Webergeselle erschien mir wie ein Geisterbeschwörer. Selbst Susanna erwachte und lachte mit. Nachher machte ich wiederholte Versuche, es dem Webergesellen gleichzutun, erreichte aber immer sehr unbefriedigende Resultate und verlor mittlerweile allen Geschmack an Zellberger.
Unendlich erhabener erschienen mir die Christoph Schmidschen Geschichten von Rittern, Räubern, biderben Förstern und ehrlichen Untertanen, aus denen auch Susanna sich willig erzählen ließ. Doch, da sie einmal zugegen gewesen, als unsere Väter die Wahrheit der Geschichte des «Heinrich von Eichenfels» in Frage stellten und im allgemeinen meinten, derartige Geschichten seien nur von Studenten ersonnen, die noch nichts besseres zu leisten im Stande wären, so ward mir Susanna mit ihren Zweifeln in der Folge sehr lästig und ich schluckte ihrem Gesichtchen zu lieb manchen bitteren Ärger still hinunter. Als sie jedoch dieselben Zweifel gegen meine liebste Geschichte, gegen «die Beatushöhle», aufwarf, da geriet ich so in Eifer, daß ich ihr mit strengem Wort es freistellte, entweder ihre Äußerung zurückzunehmen oder unsere Stube zu verlassen. Sie zog letzteres vor, wußte aber ihrem Lärvchen einen Ausdruck zu verleihen, der mir das Behagen an meiner Superiorität meisterlich versalzte.
Es dürfte nun bald scheinen, als hättʼ es mir an literarischen Ergötzungen ganz und gar nicht gefehlt und wäre mir allezeit ein Bibliotheklein auserlesener Sachen zur Verfügung gestanden. Dem war aber leider nicht so; ich besaß nur zwei kleine Büchlein eigen, alles übrige mußte ich geliehen zu bekommen suchen und was ich dabei für Not hatte, das weiß nur ich und der liebe Gott. Die Leute waren sehr ungefällig gegen den kleinen Knirps und es kostete manchmal Tränen, bis man mir den Reutlinger Artikel für ein paar Tage überließ. Dasselbe war z. B. der Fall, als ich die Spur zur «Beatushöhle», welche ein Schneiderjunge besaß, gefunden hatte. Es war an einem Wintersonntagnachmittag, als ich den glücklichen Besitzer aufsuchte, der, als ich kam, eben selber in dem teuern Büchlein las. Ich brachte mein Anliegen vor, allein der flegeljährige Junge sah mich spöttisch an und meinte, was ich denn nur davon verstehen könnte, der ich noch nicht größer sei als ein Elggermannli (ein unter diesem Namen bekanntes Backwerk in menschlicher Gestalt)! Ich bat, es auf die Probe ankommen zu lassen, worauf der Junge einging; nachdem ich aber meine Sache befriedigend abgemacht, bemerkte er, er selbst sei noch nicht ganz mit dem Lesen zu Ende, falls ich indessen darauf warten möge, so habe er nichts dagegen, doch dürfe ich nicht in der Stube verweilen, weil er es liebe, beim Lesen allein zu sein.
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