Der um vier Jahre ältere Kaspar besuchte die tägliche Schule, wovon ich oft hörte, äußerst begierig, zu erfahren, was die Schule für ein Ding sei. Ich durfte denn auch einmal nach langem Bitten mit Kaspar hingehen. Das Schulhaus stand drüben in Frühblumen und der Weg dahin führte über die Tosa, deren Ufer nur durch zwei auf einer Seite flach behauene Tannenbäume verbunden waren, deren dünne Enden in der Mitte des Flußbettes zusammenreichten und dort lose auf einem erhöhten Steine lagen, während durch die Wurzelenden je ein Pfahl in den Wuhrboden getrieben war. Wenn dann die Tosa stark anschwoll, so wurden die beiden Bäume vom Steine weggespült und blieben längs den Wuhrseiten hängen, bis das Wasser sich soweit gesetzt hatte, daß sie wieder auf den Stein gehoben werden konnten. Über diesen Steg führte der Weg in die Schule. Dieselbe fand ich schon beim ersten Besuche so sehr nach meinem Geschmacke, daß ich, als Kaspar folgenden Tages meine Begleitung verbat, so lange bei der Mutter anhielt, bis sie mir erlaubte allein hinzugehen, mir die gestrichelte Zipfelkappe aufsetzte und auch auf dringendes Verlangen einen «Lobwasser» herunterreichte, damit ich, ein Buch unterm Arme, einem Schüler ähnlich sehe. So zog ich meines Weges und gelangte auf den Steg, gaffte in das fließende Wasser, meinte, der Steg fließe mit, trat ihm nach und patsch spritzte es auf, ich schwamm in tiefster Strömung. Ein unfern dem andern Ufer stehender Schlossergeselle bemerkte mein Unglück und holte mich schon Bewußtlosen heraus. «Lobwasser» und Zipfelkappe waren dahin, keineswegs aber die Lust am Schulbesuch, so daß ich noch dreimal, bevor derselbe für mich obligatorisch wurde, bei gleicher Veranlassung in die Tosa stürzte.
In diese Zeit fällt das Sterben eines meiner Altersgenossen, das mir seiner besondern Umstände wegen unvergeßlich geblieben ist. Er war das einzige Kind eines jenseits der Tosa wohnenden bemittelten Bauers. Diesem Hause durfte ich eines Sonntagnachmittags in Begleitung meiner Eltern einen Besuch machen. Dasselbe befand sich etwas außerhalb der dorfähnlichen Häusergruppe Frühblumens auf freiem Wiesenplan und die Bewohner derselben pflegten von jeher mit der Nachbarschaft wenig Gemeinschaft zu haben. An diese Eigenschaft wurde auch der jüngste Sproße von frühe an gewöhnt trotz dessen ausgesprochenem Widerwillen, da er bedeutsame Anlagen für Geselligkeit verriet. Körperlich weit entwickelter als ich, war er doch von äußerst zarter Gesundheit, mußte vor Kälte und Nässe wohl bewahrt bleiben und bei großer seelischer Reizbarkeit ebenso vor gemütlichen Anfechtungen. Schon deshalb ließ man ihn nie ohne Aufsicht bei andern Kindern und suchte ihm das Leben innerhalb der vier Pfähle des väterlichen Hauses vor allem beliebt zu machen. So kam denn gerade diesem Jüngsten seines Stammes unser Besuch sehr erwünscht. Nach einigen spürsamen Umgängen ward von uns Kameradschaft geschlossen und wir tummelten uns auf Weg und Wasen nach Herzenslust. Der Knabe trug den damals in Grünau noch seltenen Namen Jean, aus welchem «Schangli» gemacht wurde. Wie sehr beneidete ich den Besitzer darum! Wie läppisch und abgebraucht hörte sich dagegen Hans mit dem Diminutiv «li»; ich konntʼ es nicht satt werden, Schangli zu rufen, so sehr es mich verdroß, jedesmal «Hansli» widerhallen zu hören. Schangli zeigte mir alle Herrlichkeiten in Haus und Stall und ringsherum, und zu allem, worüber ich mein Wohlgefallen äußerte, sagte er: «Das ist mein, der Vater, oder die Mutter hatʼs gesagt.» Er führte mich hinaus unter die Bäume, wo rotwangige Joggenbergeräpfel und honigsüße Schafmattbirnen im Grase lagen; er führte mich aber ganz besonders zum langen ungestutzten Haselhag, wo ganze Höcke bräunlich gereifter Nüsse zum Pflücken einluden. Welche Lust, wenn die Nüsse schon beim Berühren aus der grünen Hülse fielen! Welch Behagen, in die Tasche zu langen, wo der Vorrat gar merklich wuchs! Wir pflückten, bis das Abendrot erlosch, bis in die Nacht hinein. Endlich mußten wir aufhören, da der Sterne Schein zu geringen Ersatz bot für das verschwundene Tageslicht. Wir krabbelten von den Stauden hinunter, setzten uns aber trotz den tiefen Schatten der Nacht noch zum Zählen der Nüsse ins Gras. Allein es ging nicht und wir sahen immer aufwärts, ob denn niemand die Lichter des Himmels ein wenig heller machen wolle. Auf einmal entdeckten wir beide zugleich einen seltsam hellen Stern, der die andern Sterne mächtig überglänzte. Eine Weile sahen wir entzückt hin, dann sagte Schangli:
«Sieh, Hansli, dort ist mein Stern!»
«Er ist aber auch mein Stern», erwiderte ich, ärgerlich und eifersüchtig, daß mein Kamerad sich sogar die Sterne am Himmel zueignen wollte.
«Nein, nein, er ist allein mein Stern, die Mutter hatʼs gesagt!» antwortete Schangli in zornigem Eifer. Seine anmaßliche Beharrlichkeit machte auch mich wärmer und ich erneute meine Ansprüche in kecken Ausdrücken.
Schangli wurde immer hitziger und böser, er drohte mir, es seiner Mutter zu vermelden, falls ich ihm das alleinige Eigentumsrecht auf den Stern fürder streitig machen wolle. Das verursachte mir geringe Furcht; konnte ich ja erwidern, daß auch ich eine Mutter habe, der ich die Anmaßung Schanglis klagen durfte. So war von Nachgeben beiderseits keine Rede und nicht lange gingʼs, so lagen wir einander in den Haaren. Schangli zog trotz seiner längern Postur das Kürzere, ich drückte ihn mit einer Erbitterung zu Boden, die ihm das Leben hätte kosten können. Er schrie aber noch rechtzeitig und bat mich inständig, ihn frei zu lassen. Ich forderte dagegen Zurücknahme seiner übertriebenen Ansprüche, welcher Forderung er zögernd und unter heißen Tränen nachkam. Allein kaum hatte ich ihn losgelassen, als er seine Ansprüche erneuerte, doch jetzt nicht fordernd, sondern bittend.
«Hörʼ, Hansli, der Stern ist wahrlich mein, fragʼ nur meine Mutter.»
Ich schüttelte den Kopf: «Deine Mutter weiß es nicht.»
«Doch, sie weiß alles; hörʼ Hansli, laßʼ mir doch den Stern, ich brauche ihn, ich kann ihn nicht weggeben. Gelt, Hansli, Du läßest mir ihn?»
Die Bitte Schanglis war so rührend, daß ich trotz der hohen Schätzung meines Anteils an dem prächtigen Stern die Verzichtleistung auf denselben aussprach. Schangli merkte, wie nahe es mir ging, und trat mir zu etwelcher Entschädigung seinen ganzen Vorrat von Nüssen ab, der freilich während des Ringens im Grase größtenteils verstreut worden war.
Als wir zurückkamen, hatten die Mütter uns schon eine Weile mit Schmerzen gesucht. Schanglis Mutter insbesondere jammerte, daß ihr Büblein so lange draußen im Nachttau geblieben, was ihn ja krank machen könnte.
Mehrere Tage später, während welchen es viel geregnet hatte, nahm mich die Mutter abends nach ihrer Gewohnheit in den Stall, damit ich, während sie die Kühe molk, meine Gebetlein hersage. Ich saß dabei auf der Schwelle der Stalltüre, das Gesicht ins Freie gewendet. Die Sterne schimmerten wieder hell und ich suchte unwillkürlich Schanglis Stern. Ich glaubte, ihn gefunden zu haben, als plötzlich eine Schuppe von der fixierten Stelle fiel, worauf mir seltsamerweise auch der Stern entschwunden war. Das überraschte mich so sehr, daß ich mich selber im Gebete unterbrach, mit dem Ausrufe: «Nein, o Mutter, Schanglis Stern ist herunter gefallen!» Die Mutter lächelte und ermahnte mich, beim Beten ruhig zu sein, ich dürfe nicht an etwas anderes denken. Ich aber brachte es nicht aus dem Sinn und behelligte sie noch mit mannigfachen Fragen und Anreden. Schanglis Stern erglänzte von neuem in den Träumen der Nacht, aber auch der Fall wiederholte sich. Am Morgen kam die Mutter an mein Bettlein und weckte mich mit der Trauerkunde: «Hansli denkʼ, der Schangli ist gestorben! Gestern Abend ist er verschieden. Betʼ für den Schangli, daß er ein Engelein werde.» Ich betete inbrünstig für den verstorbenen Freund. Am nächsten Abend sah ich durch Tränen wieder nach dem Firmamente und, o Wonne, ich sah den Stern schöner und heller glänzen, als je. Und unaussprechlich freute ich mich für den Schangli, von dem die Mutter tröstend sagte, daß er jetzt auf seinem Stern daheim sei.
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