Ich war völlig zufrieden, es nur so weit gebracht zu haben, und verließ die Stube, um in einem angebauten Holzschuppen zu warten, bis der Schneiderjunge durch verabredetes Klopfen mir das Zeichen zum Wiedereintritt gebe. Es war sehr kalt und ich trug ein sehr dünnes Gewändlein. O was fror michʼs zwei Stunden lang und das Klopfen wollte noch immer nicht erfolgen! Der Schuppen lag gegen eine steile Hügelseite, dem Sonnenlicht kaum im höchsten Sommer zugänglich; jetzt schimmerte der bläuliche, staubig gefrorene Schnee durch die weitoffenen Bretterfugen der Wand und auch auf den Querbalken derselben lag bei jeder Fuge ein Häufchen hereingewehten Schnees, und im Schuppen stand eine Anzahl Holzblöcke, an welchen der Schnee seit dem Transport noch klebte. Ich bekam den sogenannten Kuhlnagel an Fingern und Zehen dermaßen, daß ich vor Schmerz die Zähne aufeinanderbiß und eine grausame Kälte durch meinen Körper rieselte. Aber ich hielt aus, es hätte mich gewiß eher mein Leben gekostet, als daß ich auf die verheißene «Beatushöhle» verzichtet hätte. Es war Nacht und immer kälter geworden, als das Klopfen endlich erfolgte und ich steif wie ein gefrorenes Hemd zur Türe hereinstakelte. Da wollte der Junge erst noch Umstände machen und es bedenklich finden, mir das köstliche Büchlein anzuvertrauen, von dem vielleicht in der ganzen Schweiz kein zweites Exemplar zu finden wäre. Doch überwog schließlich sein Menschlichkeitsgefühl und ich erhielt das Büchlein. Selig wackelte ich nach Hause in die warme Stube und bat die Mutter, ein Licht anzuzünden und den Tisch herunterzulassen, der mit Zapfen in Leisten an die Wand befestigt war und nach dem Essen allemal aufwärts an die Wand gelegt und mittelst eines Riegels festgemacht wurde. Die Mutter, selbst begierig, das berühmte Büchlein zu sehen, entsprach meinem Verlangen sogleich, ich aber fühlte erst jetzt in der Wärme die volle Stärke des Kuhlnagels und las der Mutter heulend die erste Seite vor.
Es wolle indessen auch niemand wähnen, ich hätte meine freie Zeit, das heißt, die Stunden außer der Schule, lediglich auf Spiele und Liebhabereien irgendwelcher Art verwenden gedurft; diese glückliche Zeit war für mich vorbei, bevor sie eigentlich dagewesen war. Mit dem siebenten Jahre kam ich in die Schule; daß ich aber mit dem achten schon für die Weberei der Mutter Garn spulen mußte, ist mir in frischester Erinnerung geblieben, dieweil mir die Spulerei entsetzlich zuwider war. Der eigentümliche säuerliche Geruch des nassen Einschlages wie des trockenen gesteiften Zettels fährt mir bei jedem Gedanken daran in die Nase. Für jeden Tag war mir eine bestimmte Partie des Garnes zugeteilt, welche unbedingt gespult werden mußte; diese Partie nannte man «Rast», ein Wort, das mir so oft den Atem stocken machte. Alles Widerstreben half nichts, man nahm mir meine Büchlein weg und sparte im äußersten Fall auch körperliche Züchtigung nicht. Meine Mutter war eine seelengute Frau und der Vater besaß auch eine ziemlich weitgehende passive Güte, was beide von roher Behandlung ihrer Kinder zurückhielt; allein hinsichtlich der den letztern zugedachten Arbeitspflicht konnten sie sehr hart sein, da ihnen eben die zu körperlicher und geistiger Entwicklung so nötige Freiheit ein Ding war, von dem sie in ihrer eigenen Jugendzeit nichts erfahren hatten. Wenn es denn doch unter hundert Malen einmal vorkam, daß mir der Rast ganz oder teilweise geschenkt wurde, so machte der Fall Epoche in meinem kleinen Leben, wie der Meilenstein in öden Weiten, der zugleich als Ruhebank hergerichtet ist.
Eines solchen Falles erinnere ich mich von dem Tage einer außerordentlichen Landesgemeinde, welcher auch mein Vater beiwohnte, doch keineswegs von politischen Motiven, sondern lediglich von Neugierde getrieben. Er las keine Zeitung und bekümmerte sich um die Welthändel rein nichts. Es hatte sich aber das Gerücht verbreitet, man werde die in der Nähe des Landsgemeindeplatzes befindliche mechanische Webefabrik, welche den Erwerb der Handwerker zu Grunde zu richten drohe, in Brand stecken, und dieses große Feuerlein nun wollte mein Vater auch gerne sehen. Da dieser Tag halb als allgemeiner Festtag galt, so ward mir ein sehr mäßiger Rast aufgegeben, mit dem ich leicht schon vormittags hätte fertig werden mögen, wäre nicht mein Fleiß durch festliche Einflüsse beeinträchtigt worden; nun aber verblieb der größere Teil noch für den Nachmittag. Plötzlich, als mir schon bange zu werden anfing, ich dürfte den Rast gar nicht fertig bringen, kam die Nachricht von dem wirklich stattgehabten Brande und von der zahlreichen Gefangennahme verdächtiger Individuen. Diese Nachricht wurde durch direkt von der Landsgemeinde Zurückkehrende gebracht, und diese sagten zugleich, daß sie nicht wenig Bekannte unter den Verhafteten auf Wagen gebunden gesehen, und unter diesen Bekannten befand sich namentlich auch Susannas Vater. Nun entstand großes Wehklagen unter den Weibern und Kindern und die Mutter sagte, ich dürfte jetzt zu spulen aufhören und mit ihr auf den Grat gehen, von wo man fernhin auf die Straße hinaussah, zu sehen, ob die Mannen endlich kommen und ob der Vater auch dabei sei. Wie sehr versüßte mit der geschenkte Rast die bittere Nachricht! Meine Tränen flossen fast nur anstandshalber und waren ziemlich reine Freudentränen. Da ich des Vaters passive Art kannte, so hatte ich eine gewisse Ahnung, er habe sich an dem Verbrechen in keiner Weise beteiligt, und es könne ihm also nichts Böses geschehen. Und meine Ahnung betrog mich nicht, denn ums Zunachten kam der Vater mit drei andern Nachbarn über den Steg, wir kannten ihn von weitem an seinen Kniehosen, welche in der Nachbarschaft nur noch er, Peters Jakob und Susannas Vater trugen. Wir Kinder eilten den Willkommenen entgegen, ich freudig, Susanna aber in Tränen zerfließend. Denn da ihr Vater nicht mit dem meinigen zurückkam, wie er mit fortgegangen, so mußte das Gerücht Grund haben. Und ja, mein Vater selber hatte ihn nebst einigen andern auf einen Wagen rückwärts an die Leiter gebunden gesehen. Das wollte mir um Susannas willen das Herz zerreißen, ihre kleine zartgebaute Mutter fiel in Ohnmacht. Der Vater erzählte nun, daß mehrere Wagen voll Verdächtiger nach der Stadt geführt worden seien, von welchen die größere Zahl bloß wegen zu lauten Freudenbezeugungen über die angenehme Wärme, welche der Brand an dem kalten Novembermorgen verbreitete, abgefaßt worden seien. Dabei habe man es hauptsächlich auf die Kniehosen abgesehen, weil der großmaulige, auf der Tat ertappte Hauptstifter solche Hosen getragen. Deshalb habe auch ihn, den guten, ganz gewiß unschuldigen Vater, mehr als ein Polizeispion mit lüsternem Blick gemessen und von mehr als einer Seite habe er die Diener und Speichellecker der Gerechtigkeit sich zurufen gehört: «Auf die Kniehosen, da trifft man die Rechten!» Mein Vater betrachtete es als einen Beweis der göttlichen Vorsehung, daß er ungeachtet dieses verpönten Kleidungsstückes frei zurückkehren gekonnt, ließ dann jedoch, um Gott seine Vorsehung etwas zu erleichtern, sofort lange gewöhnliche Hosen anmessen. Von der Landsgemeinde, der er wunderswegen doch auch ein Weilchen beigewohnt, wußte er nichts zu berichten, und wenn später des vielgenannten Tages gedacht wurde, so meinte er: «Ja, ja, das ist halt eine Weltsbrunst gewesen!» Susannas Vater kam am dritten Tage wieder heim, und auch er, der sich verschwor, nur seiner malefizischen Kniehosen wegen attrappiert worden zu sein, legte dieselben für immer ab.
Wo ich mich immer wohlbefand, das war in der Schule, und ich war auch so glücklich, nie durch Verwendung für ökonomische oder andere Zwecke am Schulbesuch verhindert worden zu sein, wie solches in andern Haushaltungen oft der Fall war. Der Vater war als ein rechtschaffener, gesetzmäßiger Mann bekannt und er wollte nicht derjenige sein, der den alten Namen der Familie Grünauer irgendwodurch in Mißkredit brächte. Hatte er kein Streben nach Auszeichnung, so hatte er doch eine gewisse Furcht vor einer solchen und es war sein bewußtes Bemühen, stets zur Sahne und nicht zur Hefe der Bevölkerung Frühblumens zu gehören. Daß mein älterer Bruder die schönste Handschrift führte, daß ich unter Lob und Preis von zweiundvierzig Hoffnungsvollen zu oberst saß und daß mein jüngerer Bruder auch allbereits seine Mücken tanzen ließ, das alles konnte dem Vater recht wohl behagen, und er pflegte etwa, den Ursprung so beträchtlicher Grütze andeutend, schmunzelnd zu sagen: «Der Ungeschickteste in meinen Schuljahren hat auch nicht Heinrich Grünauer geheißen.» Diese Eitelkeit trug also wesentlich dazu bei, daß der Vater sich unserer Schwachheit erbarmte und auf den Bettel verzichtete, den er allenfalls mitunter durch anderweitige Verwendung unserer Kräftlein hätte profitieren können. Daß er sich aber hätte beifallen lassen, ein mehreres zu tun, könntʼ ich nicht sagen. Als sich z. B. der Schulmeister erbot, Privatstunden zu geben, in welchen vornehmlich Rechnen und schriftliche Arbeiten einläßlicher gelehrt würden, und, falls sich nur ein halb Dutzend dabei beteiligen würde, das Honorar für den jedesmaligen Unterricht von zwei bis drei Stunden auf nur einen Schilling oder sechs Centimes per Kopf festsetzen wollte, so war mein Vater keineswegs resolviert, diesen Schilling auszuwerfen, sondern wir mußten, wenn wir an diesem Unterrichte teilnehmen wollten, suchen, besagten Schilling extra selber zu verdienen, was mir etwa durch forciertes Spulen, Kräuter- und Schneckensammeln und dergleichen möglich wurde. So wohnte ich diesem Unterrichte, den mein guter Felix an den Sonntagabenden erteilte, regelmässig bei, verdankte jedoch demselben blutwenig, lernte nicht nur nichts neues, sondern auch nichts eigentlich gründlicher. In den schriftlichen Übungen tat ich es dem Schulmeister zuvor und im Rechnen war er so unsicher, daß er manch gegebenes Beispiel wieder zurücknehmen mußte, weil er die Lösung so wenig finden konnte, als seine Schüler.
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