Es geschah so. Franz war ein aufgeweckter und wie es schien überall gut gelittener Junge. Es wurde uns unter seiner Anführung gestattet, die Klosterräume nach allen Richtungen zu durchkreuzen. Die Geschichte der heiligen Ida, in Bildern dargestellt, prangte hier von vielen Wänden und Decken; und die Toggenburg, in der alten Manier der Vogelperspektive gemalt und in so engem Rahmen, daß die nördlichen Türme nur noch zur Hälfte Platz gefunden, ragte stolz von dem durch einige Tännchen bewaldeten Felsen. Ich betrachtete alles mit dem Interesse, das sich an eine naturgetreue Darstellung knüpft. Auf meine Anregung vermochte Franz dann sogar, den Bibliothekar zur Öffnung der großartigen Bücherei zu bewegen. Dieser Mann, Pater Benedikt, war eine ausnehmend freundliche Persönlichkeit; sobald er merkte, daß es bei mir mehr als gewöhnliche Neugierde, daß es ausschließlich Liebe zu Büchern war, die mich in sein Bereich getrieben, gab er sich alle erdenkliche Mühe, dem unscheinbaren, unwissenden Knaben einen allgemeinen Begriff von den wertvollsten Gegenständen und vornehmsten Sehenswürdigkeiten der Bibliothek beizubringen. Welch hohen Genuß mir diese Gefälligkeit gewährte, ist nicht auszusprechen. Dem Pater entging meine Freude ebenfalls nicht, und da er es ja einzig und allein darauf abgesehen hatte, so rieb er sich darob recht vergnügt die Hände. Nun fragte er auch beiläufig, weshalb wir heute nach Bergwinkeln gekommen seien, und ich berichtete gerade und ehrlich über die Veranlassung. Er lachte herzlich, ließ jedoch kein Wort darüber fallen. Seine Freundlichkeit machte mich so kühn, daß ich schließlich die bittende Frage an ihn richtete, ob ich nicht das eine oder andere von den zahllosen Büchern geliehen bekommen könnte. Er besann sich lächelnd ein wenig, begab sich auf die mittlere Galerie und kam mit einem in Schweinsleder gebundenen Quartbande herunter. Das Buch war schweizergeschichtlichen Inhaltes und enthielt viele Kupfer. Dieses Buch wolle er mir auf sein Risiko anvertrauen, sagte er, wogegen ich ihm versprechen mußte, zu demselben alle Sorge zu tragen und es innert zwei Monaten wieder zurückzugeben.
Wir blieben länger als eine Stunde im Kloster. Den Quartband unterm Arme schritt ich seelenvergnügt zum Hofe hinaus. Der Tag neigte sich, als wir zu dem hohen Berge kamen, allein so müde wir waren und so wenig ich auf einen freundlichen Empfang bei Hause rechnen konnte, so klommen wir doch den steilen, dunkeln Hohlweg durch den Wald recht wohlgemut hinan, indem wir die erhaltenen Eindrücke durch stetiges Geplauder lebendig erhielten. Als wir die schmale Ebene der Bergkuppe erreicht hatten, war der Mond aufgegangen und schien hell auf den baumlosen Plan, wie eine Sonne zweiten Ranges. Die Luft war mild und kaum ein leises Gesäusel fühlbar, und es war, als klängen die Herdeglocken zwar durchdringender, doch leiser und harmonischer als am Tage, gleichsam, um die Schlummerstille der Talschaften ringsum nicht zu stören. Ich setzte mich an einer Stelle, wo die kleine Ebene schroff abfallend eine Kante bildete, ins leicht betaute Gras, stützte die Knie unter das aufgeschlagene Buch und fing an die Abbildungen zu betrachten. Jakob setzte sich zu mir und wir vertieften uns noch eine gute Stunde lang in diese bildlichen Mannigfaltigkeiten, bevor wir uns ernstlich zur Heimkehr anschickten.
Die Eltern bedachten uns unserer späten Zurückkunft wegen mit harten Vorwürfen. Besonders auf mich fiel ein voller Hagel von Scheltworten, die den Lippen der Mutter entströmten, sobald sie erfuhr, daß ihr Projekt zu Wasser geworden. Von jetzt an tat sie mir förmlich zu leide, was sie dem Vater gegenüber nur wagen durfte, und zog den Anlaß mich abzukanzeln oft eigentlich an den Haaren herbei. So einmal an einem Sonntagabend, als ich in einem Buche lesend bei Tische saß. Es waren mehrere Frauen aus der Nachbarschaft zugegen, während die Mutter in gewohnter Geschäftigkeit wie eine Bremse hin- und herschoß. Plötzlich fing sie an mich aufs grimmigste auszuschelten. Die plaudernden Frauen stutzten, und da ich ob so öffentlicher Beschämung bitterlich zu weinen anfing, legte sich eine der Frauen herzhaft ins Mittel und nannte die Mutter ein unverständig Mensch, das nicht wisse noch bedenke, wie ungleich die Menschen geartet seien und daß niemand sich anders machen könne, als Gott ihn selber erschaffen. Während sie sprach, trat sie zu mir an den Tisch, ergriff meine Rechte und bemerkte weiter in ihrer Schutzrede: «Ist es nicht, als sehe man es dieser Hand an, daß sie bestimmt sei, etwas anderes zu verrichten, als was jedem Torenbuben möglich ist? Warum haltet Ihr ihn von der Sekundarschule zurück? Probiertʼs und schickt ihn dahin, und tut er auch da nicht gut, dann erst nennt ihn einen Taugenichts.» Die Mutter aber belferte fort und fort und meinte, ich sei «zur Arbeit» geboren, und nicht, um den Herrn zu spielen, und es würde sie jeder Rappen reuen, den sie an mich wenden müßte, damit ich später mit aufrechtem Rücken umhergehen könnte. Und sie wolle doch sehen, ob sie es mit mir nicht noch durchzusetzen vermöge.
Und die gute Mutter in ihrer eifrigen Vorsorge, mich «gehörig» zu beschäftigen, machte eine zeitweilige Arbeit ausfindig, welche mir den Begriff, was arbeiten heiße, einmal recht nahe bringen sollte. Es war beschlossen, ein Stück Weideboden in Ackerfeld zu verwandeln und dieser Metamorphose sollten auch meine Kräfte gewidmet werden. Ich erhielt eine schwere Hacke mit dickem, rauhem Stiel als Werkzeug, damit wurde ich angewiesen, den Rasen vom Boden zu schälen. Der wilde Rasen war sehr zähe, mit Erlen- und Waldrosenstöcken gespickt, und erforderte den Aufwand aller Kräfte meines winzigen Körpers, um nur etwas auszurichten. Kaspar war mit dabei und hatte nicht geringe Not, mich aufrecht und tätig zu erhalten. Die Finger krümmten sich jämmerlich um den Stiel und die Haut klebte daran. Wie lang war ein solcher Tag! Ich konnte emporschauen, so oft ich wollte, die Sonne strahlte immer von gleicher Höhe und es standen mir manche solcher ewiglangen Tage bevor. Als endlich aller Rasen abgeschält war und ich die Verkrümmung meiner schön grad gewesenen Finger nur in dem Gedanken leichter verschmerzen konnte, eine solche Sträflingsarbeit werde so bald nicht wiederkehren, folgte eine weitere dazugehörige, gegen welche das Schälen noch als Erholung gelten konnte. Das geschälte Stück lag an einer steilen Halde und konnte deshalb nur von unten nach oben behackt werden; damit nun oben nicht eine häßliche, unfruchtbare Furche entstehe, war es nötig, unten eine solche auszugraben und die ausgegrabene Erde an das obere Ende des Stückes zu tragen. Zu diesem Zwecke benutzte man Jauchetansen, schrecklichen Angedenkens. Als ich die erste Bürde auf den Rücken nahm, meinte ich nicht sowohl vor Jammer als wirklichem irdischem Drucke in den Boden versinken zu müssen, und mit dieser unerträglichen Last sollte ich die Halde hinaufklimmen, nicht bloß einmal, sondern mindestens einen Tag lang im heißen Monat August. Es war gewiß ein grauenvoller Tag, die Anstrengung ging unmenschlich weit über meine eigentlichen Arbeitskräfte.
Bis in den Spätherbst wurde ich zu den meisten ortsüblichen Landarbeiten verwendet. Als es wieder Winter geworden und alle Weber zu ihren Stühlen zurückkehrten, hatte auch ich mich mit dieser gleichmäßigen und nie übermäßig strengen Arbeit mehr als je ausgesöhnt. Ich ward leidlich fleißig und die Mutter verhielt sich nun auch verträglicher, ja, sie konnte mich ganze Tage lang ungekeift lassen!
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