Bei Beginn des Winters setzte sich die Mutter auch zum Webstuhl und da sie mir gerade gegenüber saß, so war meiner Leserei radikal abgeholfen. Auch für Rede und Gesang blieb nur wenig Freiheit, da die Mutter von alledem keine Freundin war und meinte, wenn man an der Arbeit sei, so habe man keine Zeit an etwas anderes zu denken. Sie machte aber auch die helle Zeit hindurch ein so mauserig Gesicht, daß einem alle Fröhlichkeit verging und nach der Hand eine Mahnung zum Stillesein überflüssig wurde. Ihr schweigseliger Einfluß legte sich dann auch auf die ganze Haushaltung, wie ein Reif aufs Gefilde. Peters Jakob kam äußerst selten mehr zu uns.
Endlich wurde es wieder Frühling. An einem Sonntagmorgen ging ich dem Wuhr entlang bei der Tosa; die Weiden knospeten erst und das Wuhr war bei aller Dichtigkeit doch noch sehr durchsichtig. Jüngere Kinder schnitten sich aus der saftigen Rinde, die sich röhrenförmig von den Weidenstäben ziehen ließ, Flöten, Pfeifen und Waldhörner und die monotonen Klänge fern und nah weckten wehmütigsüße Erinnerungen in mir. Träumerisch verloren blickte ich in die Welt hinaus, ich wußte nicht was ich suchte, noch was mir fehlte. Ach, mir fehlte ja alles! Mattgrüne Wiesen, brauner Wald, blauer Himmel – wie ruhig lagʼs um mich und über mir! Ich mußte wohl ein wenig ergriffen und aufgerichtet werden. Ich schlüpfte durchs Wuhr in die Tosa zu einer Stelle, wo das Wasser einen spiegelglatten Teich bildete, in welchem der Himmel sich widerspiegelte. Aber nicht nur des Himmels Bild, auch das meinige lag in der Tiefe und vor demselben erschrak ich und stieß einen schweren Seufzer aus. Wie bleich und fast zu nichte war ich den Winter über geworden, wie blöd und schläfrig nickte mein Ebenbild mir zu! Dieser Anblick wollte mir bald unerträglich werden, da hörte ich meinen Namen rufen. Es konnte auch Sinnentäuschung sein; warʼs aber nicht. In einem Fahrweg, der vom Felde in die Tosa führte, stand ein Mann, der mir winkte; es war der Schulmeister Felix. Ich lief so schnell als ich konnte auf ihn zu und
achtete es nicht, daß ich einige eiskalte Strömungen durchwaten mußte. Felix sagte, er hätte zwar mit dem, was er zu sagen habe, auch bis zum Repetierschultag warten können, doch sei ihm solches, sobald er mich gesehen habe, nicht möglich gewesen. Es sei nämlich nun bestimmt und gewiß, daß noch dieses Jahr in Wiesental eine Sekundarschule eröffnet werde. Aus Wiesental und Tannenrain habe sich bereits eine ordentliche Zahl von Schülern gemeldet, auch Großmoos lasse auf ein paar rechnen, nur bei Frühblumen und Nideltobel sei noch nichts Gewißes; aber er wolle dafür sorgen, daß wenigstens einer, der Hans Grünauer, das Häuflein verstärke, und er glaube, der könne wohl für zwei gerechnet werden.
Ich war von dieser Nachricht wonnereich überrascht, öffnete den Mund einige Male lautlos wie eine Kaulquappe auf dem Trockenen und verharrte schließlich in stummem Entzücken. «Aber wie Du aussiehst! Was fehlt denn Dir? Bist Du auch gesund?» fragte der Schulmeister, indem er meine eingefallenen Wangen betastete. «Ach!» seufzte ich und eine herbe Rührung überkam mich, «nichts als weben, gar nichts anderes mehr!» Meine Stimme erstickte in Tränen. «Ja, das ist es und der Öldampf und das Spätaufbleiben», sagte Felix ebenfalls gerührt. «Aber zählʼ darauf, das ist jetzt vorbei, das wollte ich Dir sagen. Ich werde Deinen Vater heute noch oder sobald ich ihn sehe zu mir hereinrufen und es ihm andingen, daß er Dich unfehlbar in die Sekundarschule schicken solle.» Ich dankte Felix durch einen innigen Blick und bat ihn noch ausdrücklich, solches dem Vater ja recht sehr anzuempfehlen, weil er es sonst leicht wieder vergessen könnte.
Felix hielt Wort und er richtete so viel aus, daß der Vater sich wenigstens zum Pfarrer bemühte, bei demselben über das große Vorhaben Rat zu holen. Der Geistliche hörte mit gnädigem Lächeln zu und erwiderte schnell und besonnen: «Grünauer, des Schulmeisters Rat ist ein einfältiger. Ich will damit nicht bestreiten, daß Euer Bube nicht recht artige Fähigkeiten besitze, aber Außergewöhnliches ist nichts dabei, und so wäre es für einen wenig bemittelten Mann, wie Ihr seid, zu gewagt, den Jungen einem Berufe zu widmen, welcher lange Jahre der Ausbildung und bedeutende Geldopfer erfordern würde, ohne eigentliche Wahrscheinlichkeit, daß das Wagnis zu Eurer Freude und des Jungen Glück ausschlüge. Laßt ihn lieber ein Handwerk lernen, etwa just die Bäckerei. An inländischen Bäckergehülfen ist immer noch Mangel, sodaß die Hälfte derselben aus Schwaben besteht. Überlegtʼs und tut was Ihr wollt, nur versteigt euch nicht in das geschulte Wesen. Das ist mein Rat. Lebt wohl Grünauer.»
Diesen Bericht brachte der Vater ohne Randglossen zurück; die Mutter fand den Rat vernünftig und allweg gescheiter als den des Schulmeisters. Auch ich erschrak nicht davor, lag doch die Möglichkeit darin, vom Weben loszukommen. Anderer Ansicht war der Schulmeister, der einige Tage nach Eröffnung der neuen Schule in unser Haus kam. Er bemerkte aufgebracht, das stehe dem Pfarrer, der ein städtischer Aristokrat sei, ganz gut und harmoniere mit der Tatsache, daß er bei der Einweihung des Institutes, das gegen seinen Willen ins Leben gerufen worden, seine beschmutztesten Kleider getragen und extra vom sauersten Wein getrunken habe. Felix bestürmte den Vater von neuem, wenigstens ein Jahr lang den Versuch zu machen, da werde sichʼs zeigen, was der Pfarrer für ein Menschenkenner und Prophete sei. Allein der Vater fand es bequemer, dem Pfarrer zu glauben, und die Mutter sagte entschieden, aus dem werde nichts, daß ich ein ganzes Jahr lang im Sonntagsgewändlein herumlaufen dürfe; vielmehr sei es jetzt an der Zeit, daß ich endlich etwas verdiene. Der Vater nickte Beifall und die Sekundarschule war überwunden.
Da in Grünau keine Bäckerei existierte, die Lehrlinge aufnahm, und der Vater es nicht der Mühe wert hielt, sich anderswo nach einer solchen umzusehen, so blieb der Webstuhl mein Teil; ohnehin wäre ich auch für den Bäckerberuf noch viel zu klein und schwach gewesen. Ich ergab mich in mein Schicksal, hielt jedoch in romantischen Träumen an der Hoffnung fest, dereinst von Berufes wegen durch Bibliotheksäle schlendern und auf dem einsamen Zimmer über erhabenen Problemen brüten zu können. Ein Sporn zu größerem Fleiße beim Webstuhl konnte in solchen Vorgängen nicht liegen, gegenteils wurde ich immer lässiger und gleichgültiger. Ich
kam denn auch so eigentlich nicht mehr aus Strafverhängnissen heraus, die sich besonders auf die Samstagabende zusammenzogen, welche Zeitpunkte als Hauptlieferungstermine angesetzt waren, während ich selten etwas liefern konnte und sicherlich kein einzig Mal etwas rechtzeitig lieferte. Drohungen und Strafen fruchteten wenig, ebensowenig die Zusprüche Susannas, welche mir vorrechnete, was sie in einem Jahre bereits erübrigt habe. Trotzig erwiderte ich ihr, daß sie es ja wissen müsse, wie ich gar nicht darnach trachte, beim Weben vorwärts zu kommen, und daß gewiß die Zeit nicht ausbleiben werde, in welcher ich ohne Weben in einem Tage so viel verdiene, wie sie jetzt in einer ganzen Woche. Das imponierte ihr jedoch wenig, sie blickte mich spöttisch an und bemerkte, es dürfte auch noch so ein Kleinegli aus mir werden.
Bei solcher Unverbesserlichkeit geschah es auf Anregung der Mutter, daß mir auferlegt wurde, ein wöchentliches Kostgeld zu bezahlen; was ich darüber hinaus erwürbe, sollte mir gehören, in dem Sinne jedoch, daß ich daraus auch die Anschaffung der Kleider bestreiten sollte. Das war des größten Elendes Anfang. Ich erwarb selten so viel, als nur das Kostgeld betrug, und da man es mir reif werden lassen wollte, so kam ich in Kleidern so zurück, daß ich mich bald kaum mehr sehen lassen durfte. Man zeigte mit den Fingern auf mich und sagte mir ungeniert ins Gesicht, welch ein Erztaugenichts ich sei.
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