Hagger sah, daß er es mit einem gläubigen, äußerst lernbegierigen Jünger zu tun hatte, und kehrte sein letztes Wissen und Wähnen heraus. Da ich nichts als ein beschränktes natürliches Verständnis beibrachte und mir viele seiner Äußerungen kauderwälsch blieben, was meine Antworten klärlich und kläglich verrieten, so kam er nach einiger Zeit mit dem Rate, ich möchte Lateinisch zu lernen anfangen; die lateinische Sprache sei der Hauptschlüssel zum Eingang in die geheimen Wissenschaften, auch als Wissenschaft an und für sich sei sie ein höchst schätzbares Besitztum, das die Mühe des Erlernens hundertfältig lohne. Mitten in seiner Freude an der klassischen Wissenschaft fing er an langsam und feierlich sein tägliches Gebet zu sprechen: «Pater noster qui es in coelis, sancteficetur nomen tuum usw.» Diese Sprache hatte in meinen Ohren einen wunderbaren Wohlklang, daß ich augenblicklich den Entschluß faßte, Haggers Rat zu folgen, und von ihm eine alte Grammatik für etliche Schillinge kaufte. Allein der Entschluß war eben leichter gefaßt als ausgeführt. Ich fing in meinen knapp beschnittenen Mußestunden zu deklinieren und Vokabeln zu memorieren an, aber trotz allem Fleiße machte ich sehr bescheidene Fortschritte; zumal das Memorieren war eine rechte Frohnarbeit für mich und es fing mir an zu grauen bei dem Gedanken, eine ganze Sprache so vom dürren Blatt erlernen zu müssen. Überdies, da mir der Gebrauch einer Grammatik etwas Ungewohntes war, fehlte mir selbst die Einsicht in die Nützlichkeit einer solchen steifen, regelrechten Lehrweise und ich gab dem Gedanken Raum, es dürfte sich wohl auch ein etwas ansprechenderer Modus finden lassen, in das Verständnis einer toten Sprache einzudringen. Ich redete zu Hagger davon und er gestand, daß auch er für die grammatikalische Lehrweise keine Vorliebe habe, obschon es ausgemacht sei, daß sich nur mittelst derselben eine richtige Kenntnis irgendeiner Schriftsprache erlangen lasse. Er lieh mir dann zum Zwecke von Leseübungen eine lateinische Bibel, von welcher ich geraume Zeit hindurch starken Gebrauch machte. Das Evangelium Mathäi ward mir in der Tat ziemlich geläufig, ich konnte es längere Stellen weit leidlich ins Deutsche übersetzen. Aber es war viel Selbsttäuschung dabei, ich kannte eben die betreffenden Stellen vom Deutschlesen her so gut, daß ich gleich aus einzelnen lateinischen Worten den Inhalt erriet. Suchte ich aber an andern Stellen das wirkliche Verständnis des lateinischen Textes, so haperte es bedenklich und da fühlte ich wieder, wie es kaum möglich sein dürfte, eine tote Sprache ohne grammatischen Sukkurs zu erlernen. Auch diese gewonnene Einsicht verheimlichte ich nicht vor Hagger; er erwiderte ironisch, es nehme ihn wunder, zu welchen weitern Einsichten ich noch gelangen werde.
Mit der Weberei ging es derweil so erbärmlich, als möglich. Ich lebte in Haggers Büchern, sie lagen immer in unmittelbarer Nähe des Webstuhls; ich wendete mancherlei Künste auf, während der Arbeit lesen zu können, aber es ging nicht, und das Ende vom Liede war in den meisten Fällen, daß ich das Weben dem Lesen opferte. Die Mutter schimpfte weidlich Tag für Tag, stellte mir trotz unserer protestantischen Konfession die längsten und strengsten Fastenzeiten in Aussicht und auch hinsichtlich der Kleidung wurde mit fast waldbruderlicher Einfachheit gedroht. Der Vater mischte sich wenig darein und lehnte es stillschweigend ab, wenn die Mutter ihm zu schärfern Maßregeln riet. Da war die arme arbeitsame Mutter gewiß zu bedauern, die nichts als endlosen Ärger vor sich sah; sie wurde mir denn auch bitter abgeneigt und ihr Sinnen und Trachten ging dahin, meiner Gegenwart los zu werden. Sie hatte einen Verwandten in dem zwei Stunden von Grünau entfernten Klosterflecken Bergwinkeln, der seines Berufes ein Schlosser war und daselbst das Geschäft ordentlich ins Große trieb. Mit diesem Vetter unterhandelte die Mutter insgeheim, daß er mich als Lehrjungen annehmen möchte. Derselbe kannte meine persönliche Wenigkeit noch nicht und verlangte, bevor er eine entscheidende Antwort gäbe, mich zu sehen.
Infolge dieses Verlangens wurde ich dann eines Tages veranlaßt, einen Ausflug nach Bergwinkeln zu machen. Ich sollte allein gehen, man ließ sich jedoch erbitten, mir noch den Bruder Jakob als Begleiter mitzugeben. Der Weg führte über einen hohen Berg, auf welchem Gentianen und Alpenrosen in schönster Fülle blühten. Es war ein herrlicher Sommertag, dessen Herrlichkeit vornehmlich in solcher Höhe zu Augʼ und Herz sprechen mußte. Da lagen die Fernen im durchsichtigsten Duft sommerlicher Bläue, durchschimmert von den Silberfäden klarer Flüsse und den Spiegelflächen ruhiger Seen. Auf den nahen Weiden tummelten sich lustige Rinder, weideten bedächtliche Kühe, klangen in vielfältigen Akkorden die hellen Glocken und die mißtönigen Schellen, jauchzte der Melker den Reigen und sang die alte Kräutersammlerin:
Mein erst Gefühl sei Preis und Dank usw.
und sangen auch wir arme Schlucker:
Wie schön istʼs im Freien,
Bei grünenden Maien! usw.
Ja, mit weit offenen Schnäbeln sangen wirʼs und fühlten an den vollern Schlägen unserer gedrückten Herzen, wie tief der Jammer aller Fabrikindustrie heute unter und hinter uns lag. In unsäglichem Behagen setzten wir uns nach kurzen Strecken in den Schatten des Grünhages, hochragender Eichen und Buchen, überhängender Felswälle. All unser Gespräch war Jauchzen, all unser Plaudern Gesang. Daß bei solcher Stimmung der Gedanke an die Ursache unseres Ausfluges nicht wuchern konnte, versteht sich. Einesmals kamen wir an eine Stelle, wo ich Halt gebot. Wir befanden uns bei einem kleinen Gemäuer, der mir bereits von einem frühern Ausfluge her bekannten Nische, welche das lebensgroße Bild der heiligen Ida enthielt, an der Stelle erbaut, wo die Heilige, der Sage nach, dreißig Jahre lang einsam gelebt hatte, nachdem sie von ihrem eifersüchtigen Gatten von der Toggenburg über einen hohen Felsen hinuntergestürzt worden war. Am Fuße des Gemäuers, wo über uns die schöne Heilige mit reichem Gewande angetan saß, erzählte ich Jakob die hochromantische Geschichte von der edlen Dulderin, die, in ihrer Jugend in Üppigkeit und Bequemlichkeit erzogen, später in einer selbsterbauten Hütte bei Himbeeren und Holzäpfeln ein zufriedenes Leben führen konnte.
Es war hoher Mittag geworden, als wir in Bergwinkeln ankamen. Vetters Mittagessen war schon vorbei, daher eilte die Frau Bas so schnell sie konnte, uns noch aparte etwas zur Stillung unseres Appetites zu bereiten. Vetter Schlosser wurde aus der Schmiede gerufen, es erschien in ihm ein Riese von Person, der mit offenbarer Geringschätzung auf seine kleinen Vettern herniedersah. Er setzte sich pressiert ein wenig zu uns hin und fragte ohne weiteres, ob ich Lust habe zum Schlosserhandwerk. Ich sagte: «Pah ja, jedenfalls mehr als zum Weben.» Aber nicht so besonders, daß ich es allen andern Berufsarten vorzöge? fragte er weiter. «Pah, nein», erwiderte ich, «ich wollte allweg lieber ein Apotheker oder Gelehrter werden.» «So», bemerkte er kurz, «Du bist jedenfalls nicht geeignet für die Schlosserei, dazu bist Du zu schwach an Leib und Seele, da kann man auch die Probezeit ersparen. Siehʼ, ich habe viel zu tun, sagʼ zu Hause, ich lasse den Vater und die Mutter freundlich grüßen und mit Dir wisse ich nichts anzufangen.» – «Je so», antwortete ich nur unmerklich betroffen, «ja, ich willʼs ordentlich ausrichten.» Eben, als der Vetter gehen wollte, kam die Bas mit dem Essen herein. Sie hörte, daß es mit meiner Einstellung nichts sei, und da sie nicht wußte, wie gleichgültig ich das Mißlingen der Angelegenheit hinnahm, hatte sie ein ziemliches Bedauern mit mir und sagte zu ihrem Manne: «Aber eine Freude mußt Du den Buben doch machen; sie sind vielleicht noch nie im Kloster gewesen, schick den Franz herein, er kann eine Stunde mit ihnen herumspazieren.»
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