Diese Argumentation zeugte nicht von Sachkenntnis. Rieser hatte nicht nur neunzehn Exilautoren aufgeführt, sondern zwischen 1930 und 1938 auch so gut wie jedes brauchbare Stück eines Deutschschweizer Dramatikers. Von Caesar von Arx, Albert Jakob Welti und Jakob Rudolf Welti, Walter Lesch, John Knittel, Arnold Kübler u.a. wurden mindestens fünfzehn Stücke gezeigt.149 Daß Rieser als Jude und Antifaschist keine Frontisten und Antisemiten wie Schaffner oder Guggenheim aufführte, dürfte ihm Frisch kaum zum Vorwurf gemacht haben. Der Ruf: ›Spielt mehr Heimatdichter und weniger Exilautoren!‹ hatte im Jahr 1938 eine besondere Bedeutung: Seit der Annexion Österreichs gab es für antifaschistische Dramatiker kein deutschsprachiges Forum mehr – außer dem Schauspielhaus. Sie von hier zu verdrängen hieß, sie zum Schweigen zu bringen und damit den Wünschen der Nazis (unfreiwillig) gefällig zu sein. In diesem Punkt trafen sich die militanten »Geistigen Landesverteidiger« in einer unheiligen Allianz mit den Frontisten: Für diese war das Schauspielhaus ohnehin nur »ein Tummelplatz haßerfüllter Emigranten«. Jetzt, nach dem Abgang Riesers, müsse es sich, so ihre Forderung, von einem »Hort der Politik« wieder in eine »Stätte unverfälschter Kunst« – so ein Flugblatt der Frontisten – verwandeln.150
Die wahre Geschichte der Gründung der Neuen Schauspiel ag nach Riesers Abgang und der Einsetzung des legendären künstlerischen Direktors Oskar Wälterlin ist noch nicht geschrieben. Das akribische Quellenstudium von Ute Kröger hat aber bereits einige erstaunliche Neuigkeiten ans Licht gebracht. Das neue Schauspielhaus sollte das politisch unbequeme, weil unabhängige und in breiten Kreisen unbeliebte Theater des »Juden Rieser« nicht einfach fortführen, sondern sich zu einer nationalschweizerischen Bühne im Sinne der Geistigen Landesverteidigung umwandeln. An diesbezüglichen Erklärungen gegenüber der Rechten wie den chauvinistisch aufbegehrenden Kulturverbänden fehlte es nicht. Der ausländische Jude Hirschfeld hatte im Hintergrund zu bleiben; er wurde wieder Dramaturg, doch nicht, wie erhofft, Mitglied des Verwaltungsrats. Den vom Verwaltungsrat gewünschten deutschen Theaterdirektor und sozialdemokratischen Immigranten Carl Ebert ließ man schnell wieder fallen, als der Chef der Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, mit Nachdruck einen schweizerischen Freund empfahl. Dieser Freund galt zwar der Bundesanwaltschaft politisch »als ein Kind«, er hatte jedoch im In- und Ausland künstlerisches Aufsehen erregt, Leitungserfahrung gesammelt und er bot Gewähr für eine loyale Haltung gegenüber dem Verwaltungsrat. Schon einige Jahre zuvor hatte nämlich in Basel ein Theaterverwaltungsrat den dortigen Direktor Oskar Wälterlin, so der Name des Freundes, ohne Probleme zum Teufel gejagt – wegen eingestandener Homosexualität. So kam, was in der späteren Legende als Heldentat erschien, in Wirklichkeit als Kompromiß nach vielen Seiten zustande.151
Die weiteren Veröffentlichungen Frischs aus jenen Jahren sind Fingerübungen ohne großen Belang. Frischs Hauptbeschäftigung galt dem Studium der Architektur. »Wieso grad Architektur? Der Vater ist Architekt gewesen (ohne Diplom); das durchsichtige Pauspapier, die Reißschiene, die wippen kann, das Meterband als verbotenes Spielzeug. Ich zeichne exakter, als ich vorher geschrieben habe. Als Zeichner von Werkplänen komme ich mir übrigens männlicher vor.«152 So Frisch im Alter. Auffällig ist, daß er nun den Einstieg in die bürgerliche Welt als Weg in den Fußstapfen des Vaters sah, der ihm sonst kaum Vorbild gewesen war. In der Psychologie signalisiert diese Vaternachfolge Übereinstimmung mit der herrschenden Ordnung. Wie dem auch sei, in der Tat machte sich Frisch nun mit Konsequenz daran, wenn schon kein bedeutender Dichter des Bürgertums, so doch ein angesehenes Mitglied der gutbürgerlichen Gesellschaft zu werden.
Seine wichtigsten Lehrer waren William Dunkel und Otto Rudolf Salvisberg, beide Architekturprofessoren an der eth seit 1929. Salvisberg (1882–1940), der Sohn wohlhabender Berner Bauern, kam nach Ausbildungs- und Gesellenjahren in der Schweiz und in Deutschland 1908 nach Berlin, dem Mekka der modernen Architektur. Gropius, Wright, Behrens, Mies van der Rohe, Le Corbusier, Taut u.a. wirkten dort. Er wurde nach dem Ersten Weltkrieg einer der meistbeschäftigten Architekten und baute allein zwischen 1918 und 1923 an die 2500 (!) Häuser. Er kannte die Moderne – er baute z.B. das erste Geschäftshaus aus Sichtbeton in Berlin –, war jedoch kein Theoretiker und Entdecker neuer Wege. In der Inflationszeit errichtete er zahlreiche Berliner Villen, u.a. das Haus Flechtheim, das sich Göring 1933 aneignete. In Bern realisierte Salvisberg das Lory-Spital. Ab 1935 wurde er gewissermaßen Hausarchitekt von Hoffmann-La Roche und schuf neben deren Hauptsitz in Basel auch zahlreiche Niederlassungen im Ausland. Vom Bauhaus und von Le Corbusier hielt er wenig. Gropius seinerseits schrieb über Salvisberg: »Ich halte ihn keineswegs für einen ersten Mann, der aus eigener schöpferischer Quelle schafft, aber er hat ein sehr gediegenes Können.«153 Frisch beschrieb ihn als Mann, der von den Berliner Erfolgen getragen gewesen sei und der im Bewußtsein lebte, daß er seine Sache anderswo schon gemacht habe.154 Salvisbergs Vorlesungen waren im Wortsinn: Gebäudelehre. Geistige Höhenflüge boten sie nicht.
William Dunkel, geboren 1893 in New York, später Bürger von Bubendorf, Schweiz, wurde bekannt durch »originelle, eigenwillige schöpferische Leistungen in spontanem Kontakt mit den Gegenwartsproblemen«, so das Lexikon der Schweizer Künstler. Seine Dissertation galt dem modernen amerikanischen Städtebau. In seinen Düsseldorfer Jahren (1921–1929) entwickelte er sich zu einer Kapazität auf diesem Gebiet. Im Unterschied zu dem im Wohnungsbau noch immer üblichen Flachbau propagierte er den Stahlskelett-Hochhausbau als die Wohnform der Moderne. Sein Brückenkopf-Hochhaus in Düsseldorf (1924–1929) erregte Aufsehen. 1929 kam er mit sechsunddreißig Jahren als jüngster Architekturprofessor nach Zürich. Seine Wohnbauten in Zürich (Engepark) und Basel (Schützenmattstraße) erhielten Auszeichnungen für gutes Bauen, sein Entwurf eines riesigen, oktogonalen Stadions in Zürich wurde zwar mit dem ersten Preis ausgezeichnet, doch im Unterschied zum Letziparkstadion, das er ebenfalls entwarf, nicht gebaut. Auch sein Modell eines neuen Stadttheaters kam, obschon prämiert, nicht zur Ausführung, dafür das Lochergut, die ersten Hochhäuser Zürichs. Auch Frisch hat eine Weile dort gewohnt.155 Dunkel war primär Konstrukteur, nicht Theoretiker und Vordenker. Die Studenten hatten zu lernen, wie ein Gebäude oder eine urbane Situation technisch zu projektieren sei. Stilistische, künstlerische und planungspolitische Fragen blieben, so Frisch in der Retrospektive, ebenso ausgeklammert wie »das Unpapierene, Greifbare, Handwerkliche«, das er sich vom Architektenberuf erhofft hatte. Damit aber vermißte er genau jenen doppelten Praxisbezug, den er sich im Studium erarbeiten wollte: den Bezug zum Handwerk ebenso wie den Bezug zur gesellschaftlichen und politischen Dimension der Architektur. Vor allem dieser zweite Bezug sollte den Architekten Frisch noch besonders beschäftigen. In der Stadtplanung, seinem Lieblingsthema, wird er die Besitz- und Eigentumsverhältnisse der eigenen Gesellschaft kritisch zu analysieren beginnen und die Architektur vom reinen Bauhandwerk weg hin zur Konstruktion einer idealen gesellschaftlichen Lebensform weiterdenken. Damit aber wird er den Rahmen der konventionellen Architekturlehre sprengen und kritischer Gesellschaftstheoretiker anhand der Bautätigkeit eben dieser Gesellschaft werden. Das Studium klammerte solche politische Dimension tunlichst aus, weshalb es Frisch zwar »mühelos und mit linker Hand« (K. Schnyder-Rubensohn), doch ohne besonderes Engagement absolvierte.
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