Ich würde Ihnen, sehr geehrter Herr Rabinowitch, nicht schreiben, wenn ich mich nicht von persönlichen Vorurteilen frei wüßte; es geht mir um die Sache, die wir geistige Landesverteidigung nennen und der Sie, auch wenn Sie mit gutem Grund sicherlich das Gegenteil wollen, einen schlechten Dienst erweisen. Auch einfachere Leser spüren sicher, daß es Ihnen ja nicht für das Schweizerische, sondern gegen das Deutsche geht, das heutige Deutschland, das auch unsere Gefahr ist, wenn wir nicht wirklich etwas Eigenes sind; das aber heißt: schweizerisch ist nicht das Anti-Deutsche, womit wir uns ausliefern, sondern das Außer-Deutsche. Ich kann es Ihnen kaum klarer sagen. Aber ich spüre, Sie ahnen noch nicht, wie sehr Sie gerade ihrem Feind in den Sattel helfen! Ich
möchte Sie bitten, daß Sie mir das glauben. Darum schreibe ich Ihnen, nur darum; Ihre satirischen Zeichnungen erreichen mehr als ein frontistischer Fackelzug …
Unser Volk hat zur Zeit wieder ein sehr waches Empfinden; man spürt sehr bald, ob ein Mann für uns kämpft oder uns nur benützt, um gegen andere zu kämpfen. Ob jemand in unserer geistigen Landesverteidigung mitzuwirken berufen ist oder nicht, würde nicht davon abhängen, wie lange er schon im Lande ist; ich glaube, Sie sind schon lange hier, trotzdem ist Ihnen das Schweizerische sekundär, was ich spürte, bevor ich wußte, daß Sie, als Künstler einer sozusagen offiziellen Zürcherbildermappe, und vor allem auch Ihre Frau unserer schweizerischen Landessprache nicht nur fremd, sondern vollkommen gleichgültig gegenüberstehen, – und dies nicht als ein gewöhnlicher Herr, sondern als ein durchaus nicht unauffälliger Streiter im schweizerischen Nebelspalter.
Dies alles auf die Gefahr hin, daß Sie mich völlig mißdeuten, aber jedenfalls mit den besten Grüßen:
Max Frisch [Unterschrift] Sempacherstraße 71«137
Zu mißdeuten gibt es hier nicht viel. Wiederum verfocht Frisch eine strikte Gesinnungsneutralität in einer Zeit, wo der verbrecherische Charakter des Nationalsozialismus bereits offenkundig war. Und man muß den Brief zweimal lesen, um auch die argumentatio ad personam nachzuvollziehen. Da streitet ein selbsternannter Sprecher des Mehrheitsschweizertums («wir«, »man«) einem engagierten und persönlich betroffenen antifaschistischen Künstler als erstes seine Künstlerschaft ab, weil ihm der »Humor« des unbeteiligten Darüberstehens fehlt. Als ob es den »echten« Künstler kennzeichne, angesichts der Greuel der Zeit humorvoll darüber zu stehen.138 Als nächstes setzt Frisch seinen Gegner moralisch auf dieselbe Stufe mit den karikierten Nazis und spricht ihm das echt »Schweizerische« ab. Und schließlich erklärt er ihn noch zu einer Landesgefahr, die schlimmer sei als ein frontistischer Fackelzug, zu einem Menschen, der die Schweiz nur mißbrauche, um seine Ressentiments auszuleben. Beweis: Der Herr, der doch dankbar sein müßte, eine offizielle Zürichmappe anfertigen gedurft zu haben, und vor allem seine Frau Gemahlin, sie sprechen nicht einmal Schweizerdeutsch!139
Frisch schrieb diesen Brief als siebenundzwanzigjähriger Mann und als Bürger einer Stadt, die zum Exilzentrum des antinazistischen, deutschsprachigen Geistes geworden war. Als Jugendtorheit ist er nicht abzutun. Er lag im Geist der Zeit, und der Schweizerische Schriftstellerverband, der Schweizer Pen-Club, Faesi, Korrodi, Staiger u.a.m. vertraten dieselben fragwürdigen Positionen.140
Rabinovitch reagierte auf Frischs Anwürfe übrigens souverän. Im Nebelspalter Nr. 46 von 1938 veröffentlichte er eine Karikatur gegen jede Form der Zensur. Ein kleiner Hofnarr mit den Zügen Rabinovitchs kopiert ein grimmiges Hitlerporträt. Die Kopie zeigt einen lächelnden Hitler. Bundesrat Motta, der Außenminister, blickt dem Narren über die Schulter und mahnt: »Bitte noch ein klein wenig liebenswürdiger«.
Karikatur von Gregor Rabinovitch im Nebelspalter.
Der wichtigste der vier Texte, die Frisch vom Herbst 1937 bis zum Herbst 1939 veröffentlichte, ist der Aufsatz Ist Kultur eine Privatsache? Grundsätzliches zur Schauspielhausfrage (Zürcher Student, Juni 1938). Er ist allerdings nur im historischen Kontext verständlich. Nach dem »Anschluß« Österreichs rechneten viele Schweizer ebenfalls mit dem Einmarsch der Deutschen. Im Juni 1938 gab Ferdinand Rieser, der Besitzer der Pfauenbühne, sein Theater auf, um nach Paris, später in die USA zu emigrieren. Man hatte ihm, dem Antifaschisten, Juden und Ehemann der Schwester Franz Werfels, zu verstehen gegeben, daß er bei einem Einmarsch vor den Nazis nicht zu schützen sein werde. Rieser hatte, wie erwähnt, das Schauspielhaus seit 1926 als Privatunternehmen geführt und seit 1933 zum Zentrum des deutschsprachigen Exiltheaters ausgebaut. Er, und nicht erst sein legendärer Nachfolger Oskar Wälterlin, engagierte erstklassige Kräfte wie Therese Giehse, Wolfgang Langhoff, Maria Becker, Wolfgang Heinz, Teo Otto, Kurt Horwitz, Karl Paryla, Emil Stöhr, Ernst Ginsberg, Mathilde Danegger, Kurt Hirschfeld und viele andere mehr. Dieses Ensemble, auf welches Zürich heute noch stolz ist, wurde damals allerdings als »jüdisch-bolschewikisches Emigrantentheater« nicht nur von den Frontisten heftig angefeindet. Anstoß erregte auch Riesers Spielplan. Zwar brachte er viel Boulevardtheater, doch da jede Woche (!), später alle zehn Tage ein neues Stück Premiere hatte, kam zwischen 1933 und 1938 so ziemlich das gesamte europäische Theaterrepertoire zur Aufführung – darunter manche Stücke, die in Deutschland und seit dem »Anschluß« auch in Österreich verboten waren. Rieser, ein tüchtiger Geschäftsmann, bewies großen politischen Mut und antifaschistische Standfestigkeit gegen massive in- und ausländische Pressionen, als er seine Bühne vielen emigrierten antifaschistischen Dramatikern öffnete, z.B. Bruckner, Kaiser, Toller, Wolf, Broch, Lasker-Schüler, Horvath und Čapek. In den fünf Jahren von 1933 bis 1938 spielte er 19 Stücke von Exilautoren, darunter viele Uraufführungen141 . Riesers Weggang stellte die Existenz des Schauspielhauses ernsthaft in Frage. Die Stadt zeigte wenig Interesse, das Haus zu übernehmen. Das Parlament verwarf einen Antrag auf 150 000 Franken Unterstützung, nachdem es drei Tage zuvor 340 000 Franken für die Errichtung einer öffentlichen Bedürfnisanstalt bewilligt hatte. Mancher Patriot empfand ein stärkeres Bedürfnis nach Hygiene als nach einem unbequemen Theater. Monatelang stand das einmalige Ensemble vor dem Nichts und rüstete sich auf eine weitere Flucht vor der drohenden »Ausschaffung« ins Reich.
Da ergriff der Buchhändler und Verleger Emil Oprecht zusammen mit dem Dramaturgen und Lektor Kurt Hirschfeld die Initiative. Nach einer längeren öffentlichen Debatte und mit aktiver Hilfe des sozialdemokratischen Stadtpräsidenten Ernst Klöti gründeten sie am 27. Juli 1938 die Neue Schauspiel ag. Diese leitet das Haus noch heute. Neuer Direktor des Theaters wurde der Basler Regisseur Oskar Wälterlin.
Frisch hat zwischen 1933 und 1938 das Schauspielhaus häufig besucht; Käte besorgte die Studenten-Karten. Nähere Beziehungen zu den Mitgliedern des Hauses pflegte er nicht.142 Die Emigrantenszene war ihm fremd. Die zahlreichen in Zürich weilenden Exilautoren rezensierte er, bis auf eine Ausnahme, nicht.143 Das Verlagsprogramm des Oprecht Verlags mit seinen prominenten Exilautoren entging seiner Beachtung. Zu Eduard Korrodis Angriff gegen die Exilautoren schwieg er ebenso wie zu Thomas Manns mutiger Erwiderung.144 Jetzt, wo die Existenz des Schauspielhauses und seines Emigrantenensembles auf dem Spiel stand, meldete er sich zu Wort. Er warnte zu Recht vor der Gefahr, das Schauspielhaus könnte in der Hand eines ausländischen Pächters zu einem Propagandaforum faschistischer Ideologie, zu einem »trojanischen Pferd in der Stadt« verkommen.145 Diese Gefahr lag auf der Hand. Daß Frisch ganz im Jargon der »Geistigen Landesverteidigung« argumentierte, war damals nicht außergewöhnlich: Im »zeitgenössischen Geisteskampf«, in dieser »offenen Schlacht« sei die »Bühne ernster und schweizerischer Gesinnung« ein »Frontstück erster Ordnung« für ein »gesundes Erwachen« vor allem der »geistigen Jugend«.146 Kein »Festspielhaus« sei erwünscht, kein »vaterländischer Weihrauch«, »aber ebensowenig wollen wir jenen unfruchtbaren Ungeist, der sich nur an den Mängeln weidet, jene Wollust eidgenössischer Selbstzerfleischung … Wir wollen eine männlichere und fruchtbarere Haltung … die an die gesunden Kräfte rührt … an die Kräfte des Glaubens, ohne die gerade unsere Demokratie, die durch das persönliche Bekenntnis freier Herzen zusammengehalten wird, am allerwenigsten bestehen könnte.«147 Nach diesem Introitus folgt das fragwürdige Credo: Niemand verlange zwar, daß eine »schweizerische Bühne … lauter einheimische Stücke« spiele, »bis jeder Schriftsteller seine Schublade wieder leer habe.« Aber wenn schon, was zur Aufgabe des Theaters gehöre, Neues gespielt werde, weshalb denn »vorwiegend Amerikaner, Tschechen oder Ungarn? … Oder stimmt es noch immer, daß wir auch im Geistesleben lieber Bananen kaufen, solange es noch Äpfel gibt?«148
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