Ich schluckte wortlos Scham und Wut, doch einmal, in Anwesenheit von Abendgästen, wurde es zu viel. Ich spielte den am Tisch Sitzenden etwas vor, am Ende gab es Applaus und Lob, worauf er, wie in einer blöden Gewohnheit, mit seinem üblichen Kommentar kam, als geniesse er es geradezu, mich vor den Leuten zu demütigen. Diesmal beherrschte ich mich nicht, begann in einem Zornanfall loszuschreien, war dabei selber erstaunt, wie die Leute zusammenfuhren. Ich warf ihm vor, er behandle mich wie Dreck, er habe es darauf abgesehen, mich zu beschämen – ich war sein zufälliger Nachkomme und sonst nichts, gerade gut genug, seinen Möbelladen weiterzuführen und dabei zu verdummen wie er selbst. Ich schrie stotternd und halb weinend, sah dabei sein verstörtes Gesicht und die Betroffenheit der Gäste. Da mir zuletzt nichts mehr einfiel, ging ich die Tür zuknallend hinaus.
Während Tagen wechselten wir kein Wort miteinander. Am schlimmsten waren die Mahlzeiten. Als Lille zu mir kam und mich dazu bewegen wollte, ihn um Verzeihung zu bitten, fragte ich sie, für wie dumm sie mich halte? Sonja hielt es mit mir: «Nur nicht nachgeben! Du hast ganz recht, ohne Revolte kommst du unter die Räder. Übrigens fand ich es toll, wie du geschrien hast.»
Nur hatte die Revolte einen bitteren Geschmack, das Leben schien auf einmal verpfuscht. Ich hatte Selbstmordgedanken, fragte mich, wie gross die Angstschwelle wäre, wenn man die geladene Pistole in der Hand hielte? Wie es wäre, wenn ich mich in seinem Zimmer erschiessen würde und er mich dort am Boden fände?
Eines Nachts hatte ich einen verrückten Traum:
Zusammen mit drei anderen, die ich nicht kannte, führte man mich eine Treppe hinab und zuunterst in einen kellerartigen Raum. Jemand erklärte uns, dass wir hingerichtet werden müssten, es handle sich um ein Sühneopfer. Urteilsvollstrecker war mein Vater. Er sass grau in grau auf dem Boden, an die Mauer gelehnt, hielt in der Hand eine Pistole, mit der er leichthin spielte. Er machte mir ein Zeichen, flüsterte mir zu, er werde mich als seinen Sohn separat behandeln, ich dürfte noch für einen Augenblick ins Wartezimmer. Ich weiss nicht, wie ich dorthin gelangte, ich war einfach dort, wurde dann von einer weiss gekleideten Krankenschwester mit himmelblauen Augen abgeholt. Sie nahm gut gelaunt meinen Arm, sprach mir Mut zu, nur keine Angst, alles werde sehr schnell vonstatten gehen und dann sei die Sache erledigt. Als wir den Keller betraten, waren meine drei Schicksalskollegen bereits tot, lagen wie Bleistifte am Boden nebeneinander. Vater forderte mich ganz ruhig auf, niederzuknien. Ich gehorchte, kniete nieder, ihm den Rücken zuwendend, das Gesicht zur Mauer. Ich wartete, dass er schiesse. Wahrscheinlich zielte er schon, wobei mich plötzlich eine grauenhafte Angst befiel. Ich dachte: Wenn es Gott nicht gibt, dann beginnt hier das Nichts, und du bist für immer ausgelöscht. Fragte mich noch: Was wird Mutter sagen?, erinnerte mich dann, dass sie schon längst gestorben war. Es herrschte Totenstille, ich sagte Vater, er solle endlich schiessen. Man hörte keinen Knall, aber ich spürte, wie die Kugel in meinen Körper eindrang; ich wollte noch etwas sagen, konnte aber nicht mehr reden und fiel wie eine Stoffpuppe auf den Boden hin.
Einmal streifte mich der Gedanke: Wie wäre es, wenn er sterben würde? Ich hatte schon davon gehört, dass Söhne den Tod des Vaters herbeiwünschten. An sich wäre es ja plausibel gewesen, in seinem Alter. Vermutlich wäre dann das Geschäft verkauft worden, ich wäre frei gewesen, meinen eigenen Weg zu gehen. Doch solange er lebte, war nicht an Verkauf zu denken, und er konnte noch lange leben. Oft dachte ich an Flucht, weg von hier, irgendwohin, in eine Weltgegend, wo man etwas Nützliches hätte leisten können, zum Beispiel in einem Katastrophengebiet, beim Roten Kreuz, Hilfe für Notleidende und Bedrohte, auf die Gefahr hin, mit ihnen unterzugehen – weg von dieser dekadenten, Spass- und Luxusgesellschaft, weggehen und ihren verdammten Wohlstand samt Kultur und seichter Unterhaltung dem Teufel überlassen.
Doch ich beging nicht Selbstmord, ich floh nicht in Katastrophengebiete, ich war zu feige, zu mutlos, zu verwöhnt wie alle andern. Als ich Vater erklärte, ich hätte beschlossen, auf meine Pianistenlaufbahn zu verzichten und im Familiengeschäft zu bleiben, bekam er feuchte Augen, machte dabei ein komisches Gesicht, wie Kinder, wenn sie nicht wissen, ob sie weinen sollen oder nicht.
Aus Dankbarkeit überliess er mir, zinslos, das Einfamilienhaus, das er ein halbes Jahr zuvor gekauft hatte und an dem eben ein paar Reparaturarbeiten gemacht worden waren. Zugleich durfte ich meinen Arbeitsplan so einrichten, dass mir noch etwas freie Zeit für private Interessen blieb. Ich besuchte Vorlesungen an der Uni, machte später meine ersten schriftstellerischen Versuche. Sieben bis acht Halbtage verbrachte ich im Laden.
Paolo, der Jus studierte, war jeweils in den Semesterferien auch da. Er hatte sich eine eindrückliche Hornbrille zugelegt, die er überhaupt nicht gebraucht hätte, der er aber eine suggestive Wirkung zutraute. Der Absatz stockte, vor allem die Teppiche gingen nicht, die Preise lagen im Keller. Einmal, dynamisch wie er war, fasste er den Entschluss, fortes fortuna adjuvat, neuen Schwung in die Bude zu bringen. Es sei höchste Zeit, ein effizienteres Marketing zu lancieren, die Räumlichkeiten zu modernisieren und vor allem, in hoc signo vinces, eine attraktive Verkäuferin anzustellen. Als die Eltern für ein halbes Jahr nach Amerika reisten, erklärte er mir, er werde das Heft in die eigene Hand nehmen und den Laden mit einem Geniestreich auf Kurs bringen. Mir selber (was mir durchaus recht war) erteilte er Urlaub, um ungestört seine Strategie starten zu können – eine Inseratenkampagne lancieren und die Preise massiv senken, was sich rasch herumreden und die Kunden herbeilocken würde. Unterdessen hatte er auch schon ein appetitliches Empfangsfräulein gefunden, das zwar vom Geschäft nichts verstand, dafür umso gewinnender lächelte. Ihre Aufgabe bestand darin, die Kunden freundlich zu begrüssen und den Chef zu holen, der dann mit seiner Hornbrille erschien, mit den Leuten redete und ihnen das Gewünschte zeigte. Einem jungen Ehepaar – symbolische Geste eines Neubeginns – gewährte er für eine Wohnzimmermöblierung einen sagenhaften Rabatt von 33 Prozent. Zwei Tage später wiederholte er die gleiche Taktik beim Verkauf einer Büroeinrichtung mit lauter Mahagoni, dann wiederum 25 Prozent Rabatt für eine Schlafzimmerausstattung. Büchergestelle, Sessel, Treppenläufer, Fenstervorhänge, alles zu Vorzugspreisen. Sogar Teppiche, die sonst überhaupt kaum mehr interessierten, brachte er wieder an den Mann. Vier davon (zwei Schirwan und zwei persische Bidjar, alles Grossformat) verkaufte er, diesmal zu halbem Preis, dem befreundeten Immobilienhändler Plözzer, der ihm dafür, ebenfalls preisgünstig, eine komfortable Eigentumswohnung beschaffte.
Innerhalb von vier Monaten hatte sich der Absatz fast verdoppelt. Die zwei Angestellten merkten mit Staunen, dass der Laden wieder lief. Doch als die Eltern heimkamen und der Vater bei einem Einblick in den Geschäftsgang feststellte, was da passiert war, ging ein Gewitter los: «Du bist ja wahnsinnig!», schrie er. «Was fällt dir ein? Das ist ja billigster Ausverkauf – ein Verlust von ein paar hunderttausend Franken! Willst du mich mit Schleuderpreisen ruinieren?»
Paolo versuchte umsonst, seine Strategie zu rechtfertigen, indem er auf den gesteigerten Absatz hinwies und zudem meinte, man könne die Preise jederzeit wieder sachte anziehen. Doch der Alte, ausser sich vor Zorn, war unerbittlich, erklärte ihm klipp und klar, er solle den Laden von nun an nicht mehr betreten, sonst sei der Konkurs vorprogrammiert.
Die von Plözzer günstig erworbene Wohnung wurde nicht erwähnt. Paolo verreiste. In einem Brief aus Mallorca bat er Vater um Verzeihung: Er gab zu, die Lage falsch eingeschätzt zu haben, obwohl er nur das Beste gewollt hatte. Am Schluss hiess es: «Ich gehöre zu jenen Unglücklichen, die ihre Fehler erst im nachhinein erkennen, ich gleiche meinem Namensvetter Paulus, der von sich sagte: ‹Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, und das Böse, das ich nicht will …› Ich gebe meine Fehler offen zu. Welch Glück, dass Ihr zu Hause keine Sünder seid.»
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