Nach seiner Heimkehr richtete er sich in seiner neuen Wohnung ein. Wochenlang sahen wir ihn kaum. Später, auf Lilles Wunsch, schloss er mit dem Alten Frieden, kam jeweils auch zu den Mahlzeiten. Er war stiller geworden, ging wieder täglich zur Uni. Nach seinen Examen arbeitete er eine Zeit lang in einem Advokaturbüro, bestand seine Anwaltsprüfung und eröffnete mit zwei Kollegen eine eigene Praxis.
Ein Jahr später verliess auch ich den Familienbetrieb und ging zu Dr. Rehberg, Druck und Verlag AG, unter anderem als Mitarbeiter der von ihm und der Verlegerin Raïssa Höhne gegründeten FAVILLA. Vater war enttäuscht, doch als kurz danach Fräulein Lina Rauch, eine 45-jährige, gewinnende Bündnerin, die Leitung des Geschäfts übernahm, heiterte er sich rasch auf und fand meinen Berufswechsel durchaus sinnvoll. Unter vier Augen erklärte er mir auch, dass ich das Einfamilienhaus weiterhin behalten dürfe und auch solle; das sei für ihn wichtig, zumal Paolo, mit mütterlicher Hilfe, schon Anspruch auf Mitbesitz angekündigt habe.
Mein Haus (das natürlich nach wie vor ihm gehört) ist achtzig Jahre alt. Fünf Zimmer und zwei Mansarden, grosser Garten, bevorzugte Lage mit Blick in die Alpen. Unweit von hier, oben am Waldrand, befindet sich ein Bauernhof mit weidenden Kühen und Pferden. Sonja besitzt den Hausschlüssel, kommt oft auch unangemeldet, je nachdem auch wenn ich nicht da bin. An sich könnten wir ohne weiteres zusammenleben, Platz wäre genug vorhanden, doch sie will entschieden nicht. Einmal wöchentlich ist die Putzfrau da, Alicia, eine Spanierin; die Gartenarbeit besorgt ein Gärtner.
Ab und zu lade ich Bekannte zu einem gemütlichen Abendessen ein. Einer meiner regelmässigen Gäste ist Leon W., ein ehemaliger Klassenfreund, jetzt seit Jahren Dozent für Komparatistik. Er hat etwas Asketisches, kurz geschnittenes Haar und stahlblaue Augen. Übrigens der beste Gesprächspartner, den ich je hatte. Das liegt nicht nur an seiner Intelligenz, sondern an einer natürlichen Dialog-Begabung, die man bei so vielen vermisst, oft auch bei Studierten. Er stellt Fragen, oft unerwartete, er kann auch schweigen, kann vor allem aufmerksam zuhören, nicht nur aus Anstand, sondern aus menschlicher Neugier. Einmal hatte er mich an die Uni zu einem Kolloquium eingeladen, hin und wieder schenkte er mir ein interessantes Buch, einmal eine Eintrittskarte für eine Opernaufführung. Ich schätze seine Offenheit, seine Spontaneität, doch trotzdem muss ich gestehen, dass unsere Beziehung manchmal ein bisschen gefährdet war. Ich spüre seine intellektuelle Überlegenheit, leider oft auch seine Übellaunigkeit, einmal ist er freundlich, ein andermal unterschwellig gereizt, als ginge ich ihm auf die Nerven. Alles in allem ein ambivalentes Verhältnis, sodass ich mich manchmal frage, ob wir eigentlich Freunde oder Feinde sind. Nur ist es vielleicht so, dass eine Freundschaft von vornherein den Konflikt in sich birgt. Meine literarischen Erzeugnisse, etwa Zeitungsartikel, Kolumnen oder Skizzen, scheinen ihn nicht zu interessieren, jedenfalls erwähnt er sie nie, was ich ihm nicht übel nehme. Trotzdem muss ich sagen, dass mir gerade von seiner Seite eine kleine, wenn auch nur angedeutete Aufmerksamkeit guttun würde.
Dankbar, wie gesagt, bin ich für dieses wohnliche Haus, nur wird mir klar, wie schwierig es ist, allein zu leben. Manchmal, besonders abends, sterbe ich vor Einsamkeit. Man stirbt ein Leben lang. Seit dem Ende meiner Pianistenträume spiele ich seltener Klavier, übe auch nicht mehr konsequent. Meistens bleibt es bei einfachem Improvisieren. Keine Sturmsonate mehr, keine Appassionata, kein Gaspard de la nuit. Irgendwie ist mir die Lust vergangen, und ohne Lust geht nichts. Vielleicht wäre ich neben jungen Russen, Polen, Chinesinnen und Chinesinnen doch chancenlos. «Entbehren sollst du, sollst entbehren …», auf Tourneen verzichten, auf fremde Länder und Menschen, auf Metropolen und Begegnungen. Verzichten, vor allem auf die Frau. Seit meinem Erlebnis mit Gertrud habe ich auch hier kapituliert. Was zuletzt bleibt, ist der bittere Likör der Resignation. Ich versuche, die paar kleinen Dinge zu geniessen, die für mich erreichbar sind – das tägliche Frühstück, die Morgenzeitung, die erste Pfeife, arbeiten, wandern, ein paar Bekannte, eine Plauderei.
Und so, mittelmässig und bedeutungslos wäre das Leben dahingegangen, wenn ich nicht Franziska begegnet wäre.
***
Eigentlich passte sie besser zu Paolo als zu mir. Paolo sagte zwar von sich selbst, er sei ein Mensch des erfüllten Augenblicks, weshalb eine definitive Bindung für ihn unerträglich wäre; sobald ihm eine Frau zu nahe komme, rege sich in ihm gleich sein Abwehrinstinkt. Ich weiss nicht, ob er diesen Instinkt auch Franziska gegenüber spürte. Wieso es dazu kam, dass Franziska mich und nicht ihn suchte, das verstehe der Himmel. Ich weiss auch nicht, wieso Paolo, als er sie kennenlernte, ihr geradezu emphatisch von seinem Stiefbruder erzählte und mich als eine Art Phänomen hochstilisierte; ich sei zwar als Typus ein asymmetrischer Mensch, doch dessen ungeachtet ein faszinierender Kerl, hochintelligent, übrigens ein fabelhafter Pianist, dessen hoffnungsvolle Karriere der Vater ahnungslos verhindert habe. Sie sollte einmal hören, wie ich die Mondscheinsonate oder Franz Liszts «Liebestraum» spiele, daneben seien Horowitz und sogar eine Argerich geradezu Dilettanten usw. Das alles hat mir Franziska später erzählt. Ich bin überzeugt, dass Paolo bei solchen Lobhudeleien gar nicht an mich dachte, sondern mich einfach als Thema für eine seiner Tiraden verwendete.
Zum ersten Mal sah ich sie eines Abends bei den Eltern, als ich zum Essen kam. Obwohl etwas verspätet, setzte ich mich im Salon kurz an den Flügel und modulierte ein paar Akkorde, weil ich wusste, dass am Nachmittag der Klavierstimmer dagewesen war. Als ich hierauf das Esszimmer betrat, sass da eine jüngere Frau mit der Familie am Tisch. Wir wurden einander vorgestellt, wobei sie leichthin sagte: «Sie spielen grossartig.»
Ich entschuldigte mich für die Verspätung, worauf mich Vater fragte, warum ich dann, wenn schon verspätet, vorher noch Klavier spiele? Paolo nahm mich in Schutz, ich hätte vermutlich schauen wollen, wie der Flügel jetzt tönt. Und zum Fräulein: «Das ist ein Bösendorfer, schon siebzig Jahre alt und dementsprechend ein bisschen heiser.»
«Ja, heiser», sagte Vater, «aber das nennt man Patina. Davon versteht ihr nichts. So ein Instrument wird immer edler.»
«Da hast du recht, Papa», sagte Paolo, «das ist wie bei alten Herren.»
Ich erinnere mich, dass während der Mahlzeit unter anderem von unserem Bauerngut in Falön, Unterengadin, die Rede war, von unserem Pächter, von Bergbauern und ihrem harten Leben. Sonja fragte sich, ob man dem Mann nicht den Pachtzins erlassen könnte, damit er mit der Familie überhaupt existieren könne und nicht eines Tages davonlaufe; heute müsse man froh sein, einen zuverlässigen Landwirt gefunden zu haben. Paolo erzählte dem Fräulein die Geschichte von Falöns Feuersbrunst, das heisst von jenem Bauernknecht, der mit der Tochter des Meisters verlobt war und dann, als sie ihm untreu wurde, den Verstand verlor, eines Nachts das Haus in Brand steckte und dadurch eine grössere Feuersbrunst auslöste.
«An sich eine fantastische Geschichte», sagte er. «Das wäre ein Thema für dich, Hannes – das grosse Feuer als Symbol des allmächtigen Eros.»
Sie, die Besucherin, war offenbar Physiotherapeutin. Zuerst, erzählte sie, habe sie in einer organisierten Praxis gearbeitet, sich dann bald selbständig gemacht – aus Freiheitsdrang. Nur nicht gebunden und von andern abhängig sein! Sie wäre gern Tierärztin geworden, scheute aber das mühsame Studium. Tiere liebte sie nach wie vor, vor allem Pferde. Reiten war ihre Leidenschaft …
Sie sass mir am Tisch schräg gegenüber. Eine gut aussehende Brünette, ihr plastisches Gesicht sonnengebräunt; sie hatte starke, leicht flache Lippen, braune Goldglanzaugen. Übrigens wirkte sie an diesem Abend eher still, jedenfalls keine Schwatzbase. Während hin und her geplaudert wurde, fiel mir einmal auf, wie sie mich halb abwesend betrachtete. Auch später, als ich vom Teller aufschaute, traf mich wieder die Stille dieser Augen.
Читать дальше