Foto Ayşe Yavaş
Alberto Nessi, geboren 1940 in Mendrisio, studierte an der Universität Freiburg Literaturwissenschaft und Philosophie. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er unterrichtete italienische Literatur in Mendrisio, schrieb für Zeitungen und verfasste Hörspiele. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur für sein Lebenswerk. Alberto Nessi lebt in Bruzella. Im Limmat Verlag sind von ihm lieferbar: «Nächste Woche, vielleicht», «Terra matta», «Schattenblüten», «Die Wohnwagenfrau», «Mit zärtlichem Wahnsinn / Con tenera follia» und «Abendzug».
Die Übersetzerin
Maja Pflug, geboren in Bad Kissingen, Übersetzerausbildung in München, Florenz und London, übersetzt seit über dreißig Jahren italienische Literatur ins Deutsche, u. a. P. P. Pasolini, Cesare Pavese, Natalia Ginzburg. Sie lebt in München und Rom und wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis für ihr Lebenswerk. Im Limmat Verlag sind von ihr Übersetzungen von Anna Felder, Alberto Nessi, Giovanni Orelli und Anna Ruchat lieferbar.
Alberto Nessi
Schattenblüten
Erzählungen
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Limmat Verlag
Zürich
«Wenn ich mich im Spiegel betrachte, sage ich mir: ‹Es ist aus, Nick.› Oben alles dritte», gesteht er und berührt seine Zähne.
Wir gehen über den Kies des Friedhofs, und ich wüsste gern die Geschichten aller Toten. Ein Raunen dringt aus den Grabkammern herauf.
«Der Gedanke, nicht dazusein, hat auch seinen Reiz», erklärt er.
Tja. Wer weiss, was sie über uns sagen werden, denke ich, während ich die steinernen Engel am Wegrand betrachte. «Ich kannte ihn vom Sehen», werden sie sagen. Oder: «Ich traf ihn immer Sonntag früh, wenn ich die Zeitung holen ging.»
«Glaubst du an Gott?», fragt er mich unvermittelt, während unsere Schritte das Raunen im Hintergrund übertönen.
«Wirklich an Gott … Jetzt stellst du mir eine zu schwierige Frage. Früher mochtest du Nick La Rocca. Trugst eine Schleuder aus Kornellkirschenholz in der Tasche. Da hast du mir nicht solche Fragen gestellt.»
«Ja, aber bleibt was von uns, danach?»
«Ich weiss es nicht. Meine Mutter sagte immer: ‹Man macht so lange weiter, bis man unter die Erde kommt.› Wichtig ist das Weitermachen.»
Wir sind etwas zu früh da, und so sehen wir uns noch das Blätterballett auf dem Platz mit den Karussells vor dem Friedhof an. Der Oktobersturm rüttelt an den Holzpferden. Erinnerungen tauchen auf.
«Als Junge putzte ich oft die Fahrbahn des Autoscooters, dafür bekam ich dann einen Jeton», sagt er.
Wir haben uns aus den Augen verloren, Nick und ich. In unserer Jugend strolchten wir immer durch die Bars und suchten irgendwas. Bis eines Tages Remo mit dem Kolpak aus Mailand kam: Er hatte es geschafft wegzugehen, in einem Untermietzimmer in Brera zu leben, zu malen wie Van Gogh und stolz die exotische Kopfbedeckung zu tragen. Wir … wir hatten die Instrumente unserer Kunst in einem Felsenkeller verstaut, in dem vorher Formaggini gelagert wurden, aber keiner von uns konnte spielen: nur Elia, der, der den Mädchen gefiel, stümperte ein bisschen auf Trommel und Becken des Schlagzeugs herum. Ich besass eine Posaune vom Anfang des Jahrhunderts, die ich unter dem Schutt auf dem Speicher ausgegraben und repariert hatte, indem ich eine Taste, die nicht mehr auf Fingerdruck reagierte, mit einem Gummiband befestigte, und Nick blies auf einem mit Seidenpapier bedeckten Kamm, einem Instrument aus den Anfängen der Jazz-Ära, das vermutlich auch Nick La Rocca auf den Dampfern in New Orleans gespielt hatte.
Jetzt treffen wir uns nur noch bei Beerdigungen. Und da kommt uns die Lust an, über letzte Dinge zu sprechen.
«Hast du schon jemanden sterben sehen?»
Es gelingt uns einfach nicht, uns auf das Leben zu konzentrieren, das muss das Alter sein. Nick hat noch nie im Leben etwas zustande gebracht. Das einzige: die dritten Zähne oben. Er ist ein Alternativer, aber nur potenziell. Ein schüchterner Alternativer, der sich nicht verwirklichen konnte. Einer, der die Reisen der anderen liebt. Er liebt es, Reiseerzählungen zu lauschen. Am Sonntagmorgen geht er mit einem Päckchen Marlboro in eine Bar und setzt sich vor den Fernseher. Er weiss nicht, was er tun soll. Ein Pessimist. Er sagt, wir leben in einer bürgerlichen Militärdiktatur.
Es kommen weitere Freunde, die ich lange nicht gesehen habe.
«Der Mauro ist angezogen wie Gianni Agnelli», sagt Nick. «Schau, eine Goldkette hängt ihm aus der Tasche.»
Alle erinnern sich noch, wie Mauro in den Nightclub ging und unter den Tisch pinkelte. Jetzt ist er Bankdirektor.
Der Tita kommt, Gepäckträger mit Zigarette im Mund, einer aus der proletarischen Schicht, die sich vor dem Krieg entlang der Grenze angesiedelt hat. Wenn du ihm ein Glas Weissen spendierst, erzählt Tita dir, dass er das Laster des Rauchens als Kleinkind angenommen hat: In San Fermo geboren, trug ihn sein Vater in eine Jacke gewickelt heim, und ihm wurde schwummerig – so sagt er, schwummerig –, dann hat er sich mit einer Prise Tabak erholt und ist für immer klein geblieben.
Aber die Lella erkenne ich fast nicht wieder. Lella, die ich eines Dezemberabends nach einem Lauf durch den Schnee geliebt hatte. Geliebt ist nicht ganz der richtige Ausdruck: gegen das Mäuerchen bei der Schule gedrückt.
Wir küssen uns auf die Wangen. Dann reden wir über die Tote, die zu begleiten wir hergekommen sind. Sie lachte immer, die Tote, als wir auf dem Lehrerseminar waren. Einmal war ich mit ihr zusammen Vespa gefahren, und wir hatten ein Päckchen Parisiennes super in einer Bar geklaut. Das ist meine Erinnerung an sie.
Nach der Beerdigung sehe ich Lella wieder. Sie ist aufgedunsen. Alkohol? Medikamente?
«Dein Blick ist nicht mehr wie früher», sagt sie. «Ich habe noch das Foto von damals, als du im Mittelfeld links gespielt hast und dir der Haarschopf in die Augen hing. Ein quer gestreiftes Trikot hattest du an.»
Wir bestellen ein Bier. Was werden sie über uns sagen? «Der mit dem quer gestreiften Trikot», werden sie sagen, «Das Mädchen mit dem Mondgesicht.»
«Wenn ich ins Lehrerzimmer komme und die Gesichter der Kollegen sehe, geht es mir schlecht», sage ich. «Und was machst du? Was ist aus dir geworden?»
Sie fängt zu lachen an und hakt sich bei mir ein. Wir nehmen die Strasse bergauf, wo ich sie an jenem Abend in den Schnee gedrückt hatte. Sie unterrichtete in der Grundschule der kleinen Stadt und liebte, ausser mir, den Astronauten Yuri Gagarin. Eines Tages hängte sie im Klassenzimmer ein Poster von ihm auf, und der Schulinspektor stellte sie in einer Sitzung öffentlich bloss. Sie wollten sie erledigen, sie, Gagarin und ihre kleine Hündin. Wir lachen.
«Da, jetzt hast du wieder diesen Blick», sagt sie.
«Die Schule hat mich schwermütig gemacht. Achte nicht darauf.»
Was werden meine Schüler über mich sagen? «Er fuhr mit dem Fahrrad in die Schule», werden sie sagen, «dann hat er sich eine gebrauchte Vespa angeschafft.» Der eine oder andere besitzt vielleicht noch, in einem im Keller aufbewahrten karierten Heft, das Klassenfoto, das der hinkende Fotograf bei Jahresbeginn auf dem Platz vor der Schule von uns geknipst hatte. Damals fuhr ich mit der Vespa zur Schule. Gemma hatte in einem Aufsatz geschrieben: «Wenn ich gross bin, will ich den Lehrer heiraten.» Und im Oktober hatte sie mir ein Kistchen Trauben in die Schule mitgebracht, als Vorschuss auf die Mitgift.
«Ich stehe auf der Seite der Minderheiten», sagt Lella. «Basken, Irländer, Flüchtlinge.»
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