Alberto Nessi - Nächste Woche, vielleicht

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'Ich heisse José, bin einunddreissig Jahre alt und Buchhändler in Lissabon. Ich bin lungenkrank und will die Welt verändern.' Mit diesen Worten stellt sich der Protagonist José Fontana im neusten Roman von Alberto Nessi vor. Er erzählt von seiner Kindheit im Tessin, von der Zeit als Uhrmacherlehrling in Le Locle und seiner Emigration nach Lissabon, wo er den Sozialismus in Portugal kennengelernt hat und zur historischen Buchhandlung Bertrand fand. Einmal mehr gelingt es dem Tessiner Schriftsteller Alberto Nessi, eine historische Figur zum Protagonisten seines Romans zu machen und mit der ihm eigenen Menschlichkeit dessen Geschichte zu erzählen. Die Auswanderung aus der Armut im Tessiner Tal ist ebenso Thema wie die Welten, die sich José in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts öffnen.

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Foto Ayşe Yavaş Alberto Nessi geboren 1940 in Mendrisio studierte an der - фото 1

Foto Ayşe Yavaş

Alberto Nessi, geboren 1940 in Mendrisio, studierte an der Universität Freiburg Literaturwissenschaft und Philosophie. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er unterrichtete italienische Literatur in Mendrisio, schrieb für Zeitungen und verfasste Hörspiele. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur für sein Lebenswerk. Alberto Nessi lebt in Bruzella. Im Limmat Verlag sind von ihm lieferbar: «Nächste Woche, vielleicht», «Terra matta», «Schattenblüten», «Die Wohnwagenfrau», «Mit zärtlichem Wahnsinn / Con tenera follia» und «Abendzug».

Die Übersetzerin

Maja Pflug, geboren in Bad Kissingen, Übersetzerausbildung in München, Florenz und London, übersetzt seit über dreißig Jahren italienische Literatur ins Deutsche, u. a. P. P. Pasolini, Cesare Pavese, Natalia Ginzburg. Sie lebt in München und Rom und wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis für ihr Lebenswerk. Im Limmat Verlag sind von ihr Übersetzungen von Anna Felder, Alberto Nessi, Giovanni Orelli und Anna Ruchat lieferbar.

Alberto Nessi

Nächste Woche, vielleicht

Roman

Aus dem Italienischen von Maja Pflug

Limmat Verlag

Zürich

Vorgestern, von meinem Denkmal hier auf dem Friedhof der Freuden, habe ich dich gesehen. Du hast meinen steinernen Arm betrachtet, der die Fackel hält, die Bronzemedaille mit der Widmung der Klasse der Stuckateure, den Fries mit dem Lineal, dem Zahnrad und dem Zirkel, die zwei Hände, die einander drücken.

Viele haben damals oben im Barrio Alto, im Büro der Arbeitervereinigung, die Totenwache bei mir gehalten, in Calçada dos Paulistas. Und mich dann hier auf die Hügel begleitet. Etwa tausend Arbeiter, die Frauen waren auch dabei. Und jedes Jahr am Ersten Mai kamen sie mich besuchen, mit Fahnen und einem Karren voller Blumen, und mittendrin mein Porträt.

Jetzt bist du hier. Was hat dich wohl bewegt, mich zu besuchen? Das Licht zu verlassen, dem du wie ein durstiger Hund über die Hänge hinterherläufst in dem Tal, wo ich geboren bin? Das Wasser zu verlassen, eingezwängt in Schluchten, wo im Winter, wenn das Laub von den Bäumen fällt, im Talgrund das nackte Gestein zum Vorschein kommt? Das Dorf, wo du dich eingesponnen hast, um dich in Seide aus Wörtern zu hüllen? Was treibt dich, es deinen Landsleuten gleichzutun, die vor dir in die Welt hinausgezogen sind? Sehnsucht nach nicht gelebtem Leben?

Mai 1871

Ich heiße José, bin einunddreißig Jahre alt und Buchhändler in Lissabon. Ich bin lungenkrank und will die Welt verändern.

Lange Zeit dachte ich, ich sei der Heilige, der in meinem Geburtsort in der Apsis der Erlöserkirche dargestellt ist. Ich preschte auf meinem weißen Pferd heran und stieß dem Drachen die Lanze in den Schlund. Der aufgerissene Schlund befand sich neben dem Hauptaltar und gehörte einer großen Eidechse mit gezacktem Rücken, die in den Sonntagspredigten das Böse verkörperte. Der Glaube war das Gute, die Rieseneidechse das Böse. Und ich war der heilige Georg auf dem weißen Pferd. Jetzt will ich euch diesen Traum erzählen.

Meine Buchhandlung ist die älteste der Stadt, «seit 1727 im Dienst der Kultur». Tagsüber bediene ich die Kunden, sitze am Schreibtisch oder gehe ins Lager in der Rua da Figueira. Der Abend gehört der Politik.

Häufig kommt Eça de Queiroz in die Buchhandlung, der Genosse Eça. Wir haben uns angefreundet, und ich lese alle seine «Folhetins». Sobald die «Gazeta» erscheint, kaufe ich sie umgehend und schneide den Artikel aus. Hier vor mir auf dem Schreibtisch habe ich einen Satz von ihm liegen, der mir gefällt: «Jeder Fuß möchte Flügel sein.»

Von meinem Arbeitsplatz sehe ich die Passanten in der Rua do Chiado, jeder in sein Schweigen eingeschlossen. An manchen Nachmittagen, wenn auch das Akkordeon des Blinden an der Ecke verstummt und die Buchhandlung menschenleer ist, denke ich: Die Welt ist melancholisch. Der Fuß möchte Flügel sein, schafft es aber nicht. Er bleibt auf der Erde, während sich Asche auf den Dingen ablagert. Vor allem im Herbst und im Frühjahr, den Übergangszeiten. Im Mai, wenn die Blumen die Illusionen wecken, die der Oktober wieder mitnimmt.

Warum ich beschlossen habe, Tagebuch zu führen und meine Geschichte aufzuschreiben? Ich weiß es nicht, ich frage es mich. Vielleicht, weil sich der feuchte Fleck in meiner Lunge ausweitet und allmählich auch mein Denken verändert. Die Krankheit bringt Fragen und Erinnerungen mit sich. Ich würde gern mehr von meinem Leben begreifen. Zum Beispiel, was mich gedrängt hat, die anderen in mich hineinzulassen. Ich spreche nicht von Büchern, sondern von Menschen, Arbeitern, Frauen in der Fabrik. Bücher leisten einem Gesellschaft, Menschen verletzen. Doch was ist mehr wert als der Mensch?

Vielleicht ist es die Beleidigung, die meinen Entschluss herbeigeführt hat. Die Beleidigung, dass es das Böse auf der Welt gibt. Wer immer auf der Straße vorbeigeht, spiegelt sich in meinem geheimen Spiegel. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts. Ich bin wie er. Ich bin er.

Ich will schreiben, um zu versuchen, die Zeit anzuhalten, die ihren Lauf für mich beschleunigt hat. Schreiben. Vielleicht will ich all den Schriftstellern Konkurrenz machen, die mich aus den Regalen anblicken … Eine neue Klarheit lässt mich das Leben rückblickend erweitern, verlängert meine Tage nach hinten. Und die Dinge aus dem Dorf, wo man geboren ist, funkeln in der Erinnerung wie die Schneide der Sense in den Händen des Schnitters.

Ich habe Eça gefragt, ob die Literatur den Menschen besser machen kann, und er hat mit einem Lächeln geantwortet. Man muss Revolution machen, damit der Mensch besser wird. Der Fuß muss Flügel werden: nächste Woche, vielleicht … Denn es weht ein neuer Wind in Lissabon: die Vorträge im Casino.

Gestern Abend, erster Vortrag: «Causas da decadência dos povos peninsulares nos últimos três séculos». Antero de Quental glich dem heiligen Franziskus, in aller Unschuld hat er die Bourgeois kaltgemacht.

Es waren die Leute da, die gewöhnlich in die Buchhandlung kommen, die Politiker, die Journalisten. Doch auch Miguel war da, der Buchbinder, der sich eingeschüchtert zwischen den eleganten Gestalten umsah. Nobre França war da, der für mich wie ein Bruder ist. Der Drucker war da, mit dem zusammen ich mir die Hände schmutzig machte, bevor ich anfing, hier mit Büchern zu handeln. Einige Arbeiter aus unserer Parteisektion standen hinten im Saal und betrachteten die Deckengemälde. Sie fühlten sich wie Hunde in der Kirche. Aber wir werden sie verändern.

Was hat Antero gesagt? Kurz zusammengefasst: Der Niedergang der Völker der Halbinsel begann, als sie unter das Joch des religiösen Despotismus gerieten, den das Konzil von Trient mit sich brachte. Starke Worte. Und während er sich über die Jesuiten aufregte, die das Volk stumm, gehorsam und dumm haben wollen, während er die Conquistadores anklagte, die uns zwar Gold, Gewürze und Palisanderholz gebracht, aber zwei Kaiserreiche und zehn Millionen Menschen zerstört haben, hörte man im Saal die Skapuliere rascheln. Einige Leute wanden sich, als litten sie an Gürtelrose.

Heute Nacht dachte ich: Tief in uns gibt es einen Schatten, der die Freude am Wachstum hindert. Die Blume öffnet sich nicht. Manchmal sehe ich diesen Schatten auch in Anteros Augen, obwohl er so kämpferisch ist. Doch während des Vortrags gestern hatte er Licht in den Augen und Flammen im Haar. Als er über Religion sprach, strahlte sein Licht. Das Christentum war die Revolution der antiken Welt, und die Revolution ist das Christentum der modernen Welt, hat er gesagt. Da bin ich aufgestanden, um zu klatschen. Die vier Arbeiter hinten im Saal hörten allem mit aufgerissenen Augen zu. «Das ist der vierte Stand», dachte ich, «mit ihnen werden wir gegen den Obskurantismus marschieren.»

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