Foto Ayşe Yavaş
Alberto Nessi, geboren 1940 in Mendrisio, studierte an der Universität Freiburg Literaturwissenschaft und Philosophie. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er unterrichtete italienische Literatur in Mendrisio, schrieb für Zeitungen und verfasste Hörspiele. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur für sein Lebenswerk. Alberto Nessi lebt in Bruzella. Im Limmat Verlag sind von ihm lieferbar: «Nächste Woche, vielleicht», «Terra matta», «Schattenblüten», «Die Wohnwagenfrau», «Mit zärtlichem Wahnsinn / Con tenera follia» und «Abendzug».
Alberto Nessi
Terra matta
Drei Erzählungen
Aus dem Italienischen von Karin Reiner
Nachwort von Fabio Soldini
Limmat Verlag
Zürich
Terra matta
Luigi Pagani, Mattirolo genannt
Im Jahre 1843 fiel Mariä Heimsuchung auf einen Sonntag. Es wurde ein grosses Fest. Nachdem sie die ersten Glocken losgebunden hatten, die Maultiere und Esel aus Moltrasio, Cernobbio, Rovenna und Piazza Santo Stefano bepackt waren, verliessen die Teilnehmer der Prozession ihre Dörfer auf Wegen, die zu dieser Stunde und Anfang Juli noch ganz finster waren.
In der Morgendämmerung begannen die Figuren deutlicher Gestalt anzunehmen: die Kapuzen rot und weiss die Kutten der Amtsbrüder, leichter trug sich der Baumwollstoff auf den Schultern der jungen Mädchen, aus den geblümten Kopftüchern tauchten die Gesichter der Bäuerinnen hervor. Der Vollmond und die Sterne, die noch am Himmel verharrten, kündigten eine schöne Kirchweih an.
Als die Vögel die Stille der Berge über dem Comer See brachen, fing auch der Pfarrer inmitten laubiger Zweige zu psalmodieren an. Die Gesänge waren jedoch matt und erlaubten jedem, seine persönlichen Angelegenheiten zu überdenken, die, aus den Nebelschleiern des Schlafes aufgestiegen, sich mit all ihren frischen Wunden den Blicken darboten.
Man konnte die Bauern sehen, die an der pellagra litten, da sie nur Polenta, Kastanien, Kleiebrot, Gersten- und Hirsesuppe, die mit Nussöl gewürzt war, zu essen hatten; die Papiermacher aus Piazza und Maslianico, die Tag für Tag in den Betrieben entlang der Breggia mit Lumpen hantierten und nun ihre Klarinetten und Flügelhörner an die Lippen setzten, die Coconwäscherinnen, Aufputzerinnen und die Anreisserinnen, die ihre grobe Arbeitsschürze gegen eine bestickte Festtagsschürze eingetauscht hatten.
Das Licht der Morgensonne fiel weniger auf Lucias von bescheidener Schönheit als auf Mädchen, die abgearbeitet und mitgenommen waren von den langen Stunden, die sie in der Spinnerei beim Haspeln und beim Einheizen des Ofens zugebracht hatten. Unter ihnen waren Mädchen, deren Los es war, vorzeitig zu altern, um den Seidenherren zu ermöglichen, sich ihre Landhäuser in der Brianza zu halten, Kinder, die in den Spinnereien mit ihren feinen Fingerchen die Seidenfäden wieder verknüpften und die manchmal mit dem Gewicht ihres Körpers nachhalfen, dass sich die Spulmaschine drehte.
Auch auf Schweizer Seite stieg man den Monte Bisbino hinauf, mit Umhängetaschen, Armkörben, Tragkörben, grossen und kleinen Flaschen. Mitten unter den Kindern, die schon recht lärmten, schritt ein Maultier mit einem Fass Wein auf dem Rücken.
Einige waren bereits kurz nach Mitternacht aufgebrochen, um den Sonnenaufgang zu sehen, ihre Sünden zu beichten und in der Wallfahrtskirche einen Platz zu ergattern – denn, fällt Kirchweih auf einen Sonntag, gibt es so viele Leute, dass man meinen könnte, man sei am Gründonnerstag in Como, um das Kruzifix in der Kirche der Annunciata zu küssen.
Zwischen den Buchen, Eichen und Kastanien hindurch sah man im ersten Tageslicht die Gewänder der Pfarrer vorbeiziehen, die Barchentkleider der Bauern, die Samtkittel und die blumenbestickten Gilets der Burschen, die Schleier und die Röcke der Frauen und die kurzen Hosen der Buben. Sie kamen von Sagno, Morbio, Vacallo, Mendrisio, Caneggio und aus anderen Dörfern des Mendrisiotto.
Nachdem sie aus dem schattigen Dunkel des Waldes hinaus auf die grasbewachsenen Kuppen gelangt waren, hielten sie inne, um die Wallfahrtskirche auf der Höhe zu bewundern. Sie war wie eine kleine Festung umschlossen von einer mächtigen Mauer, diese Stätte der Wundertätigkeit, die der Blitz vor zwanzig Jahren als Zielscheibe benutzt hatte, wobei er einen Jagdhund verkohlen, siebenundzwanzig Wallfahrer, beschützt durch die Heilige Maria vom Bisbino, jedoch unversehrt liess.
Die Breva, die aus der Ebene heraufblies, fegte über die lange gewellte Kruppe der Rücken hinweg, liess die Filzhüte und die Mützen der Männer fliegen. Sie standen eng in einer Gruppe zusammen, um mit ein paar Pfarrherren zu diskutieren, die sich Heuschrecken von der Soutane schüttelten unter den Eschen mit ihrem bedrohlichen Laubwerk und den Vogelbeerbäumen, deren rote Trauben sich bewegten. Augen und Schnurrbärte glänzten in der Morgensonne.
Die Breva trug auch ihre Gespräche über den Pfad zur Wallfahrtskirche hin, die zum Anfassen nah scheint und bei der man doch nie anlangt. Immer taucht da noch eine weitere grüne Welle auf.
«Nun, wie machen wir es heute?»
«Also, an mir soll’s nicht fehlen. An mir nicht.»
«Denk daran, dass es einen sicheren Schlag und gute Beine braucht, weil …»
«Oh, meine Beine lassen mich nicht im Stich.»
Der grosse Platz vor der Wallfahrtskirche, geschmückt mit Girlanden, Blumengewinden und scharlachroten Tüchern, wimmelte von Menschen.
Alle wollten sie die Füsse der Jungfrau Maria aus Marmor küssen und hatten ihr irgendetwas anzuvertrauen – ein Sohn, fern von zu Hause, eine verwachsene Tochter oder auch einfach die Mühsal, auf dieser Welt zu leben –, ihr konnten sie es sagen, dieser Trösterin der Bedrängten und Gnadenspenderin.
An den Wänden der Kirche berichteten Hunderte und Aberhunderte von Täfelchen und Exvotos von ihrem wunderbaren Wirken: von besiegter Pest und Cholera, von abgewendeter Dürre, gebändigter Feuersbrunst, aufgerichteten Krüppeln, vom Gelähmten, der wieder gehen kann, von der jungen Frau am Seeufer, die von ihrem Vorhaben, sich in den See zu werfen, abgehalten wird, vom Verbrecher, der seinen Revolver wegwirft und ein neues Leben beginnt, vom Kind, das vor dem Ertrinken gerettet wird, vom Bergknappen, der lebend inmitten der Trümmer einer Mine aufgefunden wird, vom Maurer, der im Fallen aufgefangen wird, als das Baugerüst einstürzt, den Schiffern, die mitten in einem Seesturm vom wundertätigen Arm der Stella del Mare gerettet werden.
Die andere Madonna, dieses Bauernmädchen aus Holz, zwei Spann hoch und rot und blau angemalt, mit dem weissen Kind auf dem Knie, erschien, als das Hochamt zu Ende war, über und über behangen mit Schmuck, Halsketten, Armbändern, Kreuzen und Medaillons, inmitten der Kruzifixe und Litaneien der Gläubigen auf der Schwelle der Kirche, getragen von den Mitgliedern der Bruderschaft aus Moltrasio. Und wenngleich sie von der bergamasca bedrohlich angeweht wurde, spiegelte ihr Blick himmelblau den Comer See, betrachtete sie, ohne Bewegung, die Berge über Brunate; und wie sie nach und nach unter dem Flügelschlag der Steinschwalben auf den Vorplatz hinausschritten, richteten sich ihre Augen beinahe sehnsüchtig auf die Dinge dieser Erde: auf die Berge um Lecco, die gewaltige Kette der Alpen, den Generoso, auf das Muggiotal, das Mendrisiotto tief unten und auf die Brianza, unter dem Schleier der grossen Hitze, und die lombardische Ebene mit dem Flecken Mailand. Sie hielten einen Augenblick inne an der Stelle, wo sie einst – oder war es am Ende die marmorne Frau? – den Glockendieb hatte abstürzen lassen, den man in gewissen Nächten stöhnen hört aus der Tiefe des Abgrunds. Schliesslich war der Gang zur Wallfahrtskirche beendet. Alle knieten nieder vor diesem Glanz; die Kühe auf der Alp wendeten ihren Kopf.
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