Foto Ayşe Yavaş
Alberto Nessi, geboren 1940 in Mendrisio, studierte an der Universität Freiburg Literaturwissenschaft und Philosophie. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er unterrichtete italienische Literatur in Mendrisio, schrieb für Zeitungen und verfasste Hörspiele. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur für sein Lebenswerk. Alberto Nessi lebt in Bruzella. Im Limmat Verlag sind von ihm lieferbar: «Nächste Woche, vielleicht», «Terra matta», «Schattenblüten», «Die Wohnwagenfrau», «Mit zärtlichem Wahnsinn / Con tenera follia» und «Abendzug».
Die Übersetzerin
Maja Pflug, geboren in Bad Kissingen, Übersetzerausbildung in München, Florenz und London, übersetzt seit über dreißig Jahren italienische Literatur ins Deutsche, u. a. P. P. Pasolini, Cesare Pavese, Natalia Ginzburg. Sie lebt in München und Rom und wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis für ihr Lebenswerk. Im Limmat Verlag sind von ihr Übersetzungen von Anna Felder, Alberto Nessi, Giovanni Orelli und Anna Ruchat lieferbar.
Alberto Nessi
Miló
Erzählungen
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Limmat Verlag
Zürich
Erster Teil
«Résistance n’est qu’espérance»
René Char
Vevey, 3. Februar 1934
Joséphine-Amérique eilt den windgepeitschten Genfersee entlang. An den Steinen am Ufer brechen sich die Wellen, das raue Rumoren der Brandung begleitet ihre Gedanken. Brandung, erbarmungsloses Gelächter: Die Arbeitslosigkeit ufert aus. Wie mag es dem armen Jungen im Gefängnis in Lausanne gehen? Wird er frieren? Er ist schon dreiundzwanzig, aber immer noch ihr Kind. Die Wellen überschlagen sich im Kopf der Frau, die gegen den Wind ankämpft. Sie hat die zwei wasserspeienden Steinlöwen am Brunnen der Place Orientale hinter sich gelassen, wo sie zwei Zimmer bewohnt. Allein, jetzt, da ihr Miló im Gefängnis sitzt.
Ihr Blick schweift zu den scharfen Zähnen der Berge hinter dem See, Drachenzähne, deren Schneespitzen tief hinunterreichen. Sie wird vom Wind gebeutelt und hat keine Augen für die himmeltanzenden Möwen über dem See. Sie hat nur Augen für Miló, bewacht von einem Wärter, der alles sieht. Er ist in einer Zelle eingesperrt, in der Festung Bois-Mermet, am Rand jener Stadt, die sie einmal auf dem Ausflug mit den Fabrikarbeiterinnen gesehen hat. Wie wird er das durchstehen, dieser lebenslustige Junge? Sie weiß noch, wie er mit der Schleuder in der Tasche die Gassen von Vevey unsicher machte, ihr kleiner David, der davon träumte, den in der alten Hausbibel abgebildeten Riesen Goliath zu Fall zu bringen. Was wird aus ihm werden? Was hat er nur im Blut, das ihn zur Rebellion drängt?
Joséphine ist eine mit dem Wind kämpfende Möwe auf dem Weg zur Arbeit. Wenn sie den Blick hebt, sieht sie den Schlot. Sie macht Zigarren bei Rinsoz & Ormond, so heißt die große Manufaktur jetzt. Sie beschleunigt den Schritt, damit sie nicht zu spät kommt. Sie lässt das Hôtel des Trois Couronnes hinter sich, eine gute Zielscheibe für Miló, Schmiedeeisen und Terrassen mit Säulchen, von denen schon die russische Zarin in der Sommerfrische auf den smaragdgrün schillernden Genfersee geblickt hatte. Mit zerzaustem Gefieder erreicht sie die Place du Marché: den weiten Platz, wo sie samstags auf dem Rückweg von der Fabrik ihre Kartoffeln kauft, wo Miló als Kind zwischen Karren, Hütchen und Spazierstöcken loslief, um aus den Körben der Marktfrauen eine Frucht zu stibitzen.
Joséphine kann sich nicht beruhigen. Einmal hatte sie dem verflixten Bengel verboten auszugehen, er hatte sich in einem Winkel der Wohnung versteckt und drei Tage dort ausgeharrt. Sie rief «Milóo …» Und er nichts, stur wie ein Esel, lieber verhungere ich … Eine Machtprobe. Woher hat dieser Dickkopf nur die herausfordernde Art, die ihn, als er noch kurze Hosen trug, die Schaufenster der Lingerie de Paris in der Rue du Centre aufs Korn nehmen ließ? Und jetzt mischt er sich unter Gewerkschafter, Kommunisten und Anarchisten. Dabei wollte er Pastor werden, Lernen gefiel ihm. Doch auch aus dem Internat ist er davongelaufen, ertrug die Disziplin nicht: Sein Gott verleiht ihm Flügel.
Grande Place. Das Ufer, wo sie zusammen mit anderen, ebenso armen Frauen zum Wäschewaschen hingeht. Die flachen Kähne für die Waren. Hier kommt der Tabak für die Zigarren an. Die Frau eilt am Schloss mit den Türmchen vorbei, in dem, sagt man, einst der große Baron gelebt hat, derjenige, der Händevoll Münzen in den See warf und belustigt zuschaute, wie die Buben ins Wasser sprangen, um sie wieder herauszufischen.
Da ist die Fabrik: Nun heißt es Zigarren rollen bis zum Abend, während die Gedanken forteilen aus diesem großen Raum voller Frauen, die vor Bergen von Tabakblättern sitzen, achtundvierzig Stunden pro Woche über die von breiten Fenstern beleuchteten Werkbänke gebeugt. Man muss dem Blick des Peinigers ausweichen: Als sie vor zwanzig Jahren angefangen hat, in der Fabrik zu arbeiten, war der dort, der Herr Aufpasser, imstande, dir eine Zigarre wieder aufzurollen, wenn du zu schnell warst, denn eine Zigarrenarbeiterin darf nicht mehr als zwei Franken pro Tag verdienen: Doch Joséphine ist schlau wie ein Fuchs und kann tausend Zigarren am Tag machen. Ab und zu hebt sie den Kopf und sieht durch die Scheiben die Savoyer Alpen jenseits des Sees. Die Drachenzähne. Ein Dampfer durchfurcht die Wellen. Wo mag das Aostatal liegen, das Dorf, das sie vor so langer Zeit verlassen hat, um in die Schweiz zu gehen?
Jetzt muss man den Kopf senken. Doch als junges Mädchen hatte sie auf den Straßen von Vevey den Demonstrationszug der Streikenden gesehen: Arbeiterinnen und Arbeiter aus den Zigarren- und Schokoladenfabriken. Am Abend bei der Union ouvrière Louis Bertoni hören, am Tag beim Schokoladenkönig mit Steinen die Scheiben einschmeißen. Bis die Armee eingegriffen und auf die Menge geschossen hatte.
Was soll jetzt bloß aus dem Jungen werden, der den Hitzköpfen von Genf und Lausanne hinterherläuft? Und dann läuft er auch noch den Röcken dieser Landstreicherin hinterher, die durch die Bistrots zieht …
Roll, Joséphine, verlier keine Zeit
Die pouponneuse schiebt dir den poupon hin, das heißt die Puppe, das Innere der Zigarre, das mit den schönsten Blättern umwickelt werden muss, und du denkst an deinen Sohn im Gefängnis. Dein Wickelkind. Zu Hause in der Nachttischschublade hast du das Foto liegen, das mit dem leicht schräg aufgesetzten Strohhut – man sieht, dass du nicht an Hüte gewöhnt bist, die mit Trauben und Blumen geschmückt sind: Du hast sie vor ein paar Jahren auf dem Winzerfest gesehen, als die Grande Place sich mit Frauen und Männern in Tracht gefüllt hat, die sangen, tanzten, mähten und harkten, während sie mit Fässern beladene Karren begleiteten, die von Ochsen gezogen wurden: auf der einen Seite die Kinder der Herrschaften, herausgeputzt als Götter und Göttinnen, Bogenschützen der Sonne, Hundertschweizer mit Federbusch auf dem Helm und auf den Boden gestützten Schwertern, auf der anderen die Kinder der Armen, verkleidet als Bauern, Böttcher und Mistkehrer.
Roll, Joséphine, verlier keine Zeit
Auf dem Foto daheim sitzt du im Studio des Fotografen in der Rue du Centre: die Arbeiterin als Göttin, thronende Madonna mit schwieligen Händen, Mutter, Füchsin neben dem Fuchsjungen im Matrosenanzug. An den Füßen hohe Schnürschuhe. Miló lehnt an deiner Schulter, so seid ihr gleich groß. Wie Wurzeln schauen die Finger deiner Hände aus den Spitzen deiner Bluse heraus, die am Hals mit einer Brosche geschlossen ist: Wie viel Tausend Zigarren hast du schon gerollt, seit dein Mann dich geschwängert und das Weite gesucht hat?
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