Copyright © 2015 Brigitte Krächan
Coverfoto: Eva-Maria Vogtel
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN: 978-3-7375-6647-6
Brigitte Krächan
Intercity nach Mailand – vielleicht
Siebzehn kurze Erzählungen
Inhalt
Intercity nach Mailand – vielleicht … 7
Cato – Besser geht’s nicht … 13
Das Dinner … 21
Der Weiher am Landheim … 25
Warten … 33
Lemminge … 39
Deutschstunde … 55
Dream Evil … 61
Keine Nachricht – gute Nachricht … 71
Wenn – dann … 77
Warum Wandschränke nachts
geschlossen werden … 81
Die Insel … 85
Johnny Gunfighter … 89
Aschenputtel – eine Wiener Geschichte … 97
Abhauen … 111
Karl, der Kleingärtner … 121
Canis Lupus … 141
Intercity nach Mailand – vielleicht
Karin saß am Küchentisch und schaute ihm zu wie er die Zeitung zusammenfaltete, die Kaffeetasse zur Tischmitte schob und sich nach seiner abgegriffenen Aktentasche bückte. Er hob sie auf den Stuhl neben sich. Karin hatte die Dose mit den belegten Broten und die Thermoskanne auf den Tisch gestellt. Er mochte das Kantinenessen nicht und von dem Kaffee im Büro bekam er Sodbrennen. Sorgfältig räumte er die Aktentasche ein. Den Apfel rieb er am Hemdsärmel blank, bevor er ihn in der Tasche verstaute. Karin erinnerte sich: „An apple a day, keeps the doctor away“, hatte er früher lächelnd gesagt, wenn er auf seinen täglichen Apfel bestand. Keine Banane, kein anderes Obst. Jeden Tag einen Apfel. Und jeden Morgen legte sie den Apfel auf dem Frühstückstisch für ihn bereit. Er stand auf, ging zum Fenster und zog sein Handy vom Ladekabel. Ein kurzer Blick nach draußen. Dieser Blick entschied, ob er einen Regenschirm mitnehmen würde.
„Scheint ein sonniger Tag zu werden“, murmelte er und schob das Handy in die Aktentasche. Der Autoschlüssel lag auf der Kommode neben der Tür, er griff danach.
„Und vergiss nicht schon wieder, die Katzenbox in den Keller zu bringen“, sagte er noch, bevor er die Tür von außen zuzog. Als er gegangen war, saß sie da und schaute lange auf die Tür. Sie hatte den ganzen Morgen noch kein Wort gesprochen. Es war ihm nicht einmal aufgefallen. Karin stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Die Zeitung warf sie ins Altpapier. Die graue Katzenbox stand neben der Kommode im Flur. Karin hatte sie gereinigt und die weiche Decke gewaschen. So viel Blut! Sie räumte die beiden Näpfe für Futter und Wasser in die Katzenbox. Als sie den kleinen Spielball dazu legte und das Glöckchen leise klingelte, brannten ihre Augen. Fast meinte sie, das zarte Trippeln von Katzenpfoten hinter sich zu hören. Er wollte keine neue Katze. Karin atmete tief durch, nahm die Wohnungsschlüssel und die Katzenbox und ging in den Keller. Sie schloss die Tür auf. Die Neonlampe flackerte und tauchte den Raum in ein kaltes, helles Licht. Sie stellte die Katzenbox neben die Tür und wandte sich zum Gehen, als ihr Blick auf den Koffer fiel.
„Nur ein einziges Mal wurde er benutzt“, dachte Karin, strich mit den Fingerspitzen über das glatte Kunstleder und erinnerte sich. Italien, Bibione. Sie nahm den Koffer mit nach oben.
Es war Nachmittag, als Karin mit dem Koffer die Wohnung verließ. Er war schwer. Sie ging die Straße hinunter und erschrak, als ein Wagen neben ihr anhielt.
„Brauchen Sie ein Taxi?“ Karin nickte. Der Fahrer stieg aus und hob den Koffer in den Kofferraum. Als er ihr die Tür öffnete, stieg sie ein.
„Zum Bahnhof?“
Sie nickte.
„35 Euro 40.“ Karin hätte nicht gedacht, dass ein Taxi so teuer war. Dann stand sie da, vor dem Bahnhof mit dem schweren Koffer. Andere Taxis kamen an. Reisende stiegen aus und betraten den Bahnhof. Karin folgte ihnen. Vor der großen Anzeigetafel blieb sie stehen. Sie las die Abfahrtszeiten der Züge und ihre Bestimmungsorte. Intercity nach Hamburg, Berlin, Paris, Wien, Mailand. Vielleicht Mailand. Karin ging zur Rolltreppe und fuhr nach oben zum Café. Sie stellte ihren Koffer neben den Stuhl ganz vorne am Geländer und nahm Platz. Von hier aus konnte sie die Anzeigetafeln sehen und die ankommenden und abfahrenden Züge. Sie erinnerte sich.
„Dies ist ein Kopfbahnhof“, hatte er ihr erklärt, als sie in den Zug nach Latisana eingestiegen waren. Ihre Hochzeitsreise nach Bibione. Sie hatten einen Ausflug nach Venedig gemacht. Er hatte alles sorgfältig geplant und spielte ihren Reiseführer. Sie waren sogar in einer Gondel gefahren.
„Ja bitte?“ Karin erschrak und schaute die Kellnerin verständnislos an.
„Kaffee? Tasse? Kännchen?“, fragte die Kellnerin schnippisch. Karin bestellte eine Tasse Kaffee und schaute hinunter in die Bahnhofshalle. Reisende verabschiedeten sich von ihren Freunden, Eltern, Partnern und stiegen mit großen Koffern in den Zug. Andere kamen an und blickten sich suchend um. Sie beobachtete eine junge Frau. Die Frau ging auf einen Mann zu, der ihr verlegen einen Strauß Blumen überreichte. Beide lachten. Er nahm ihren Koffer, sie hakte sich bei ihm ein und gemeinsam schlenderten sie den Bahnsteig entlang. Die Frau redete ununterbrochen und der Mann hörte aufmerksam zu.
Karins Blick fiel auf die große Bahnhofuhr. Es war zwanzig Minuten nach vier. Sie saß schon über eine Stunde hier. Sie fing den ungeduldigen Blick der Kellnerin auf und bestellte einen zweiten Kaffee. In fünf Minuten würde er nach Hause kommen. Sie war immer daheim, wenn er nach Hause kam. Karin legte ihr Handy vor sich auf den Tisch. Er würde anrufen. Sie würde nicht abheben.
„Auf Gleis Sechs fährt ein der Intercity von Mailand.“ Neugierig beugte sich Karin nach vorne. Der Zug hielt mit kreischenden Bremsen. Die Automatiktüren öffneten sich und die Reisenden stiegen aus. Eine ältere Frau blieb stehen und schaute sich suchend um. Dann fasste sie entschlossen den Griff ihres Rollkoffers, ging zügig den Bahnsteig entlang und verschwand aus Karins Blickfeld.
„Sie weiß genau wohin sie will“, dachte Karin, “wahrscheinlich wartet er draußen auf sie.“ Karin schaute auf ihr Handy. Eigentlich müsste er jetzt anrufen.
Als die Bahnhofsuhr fünf Uhr zeigte, hatte er immer noch nicht angerufen. Wieso rief er nicht an? Karin wurde nervös. Wenn er zu Hause wäre, würde er anrufen. Ganz bestimmt. Wieso war er noch nicht zu Hause? Karin blickte wieder in die Bahnhofshalle hinab. Zwei Mitarbeiter des Roten Kreuzes schoben einen Mann im Rollstuhl zum Zug. Sie hatte nicht gewusst, dass es für Rollstuhlfahrer besondere Türen am Zug gab. Sie halfen dem Mann in den Zug. Die Tür schloss sich. Als der Zug aus dem Bahnhof rollte, wählte Karin die Handynummer ihres Mannes.
„Ebert?“, seine Stimme klang überrascht, „ich bin gerade heimgekommen. Wo bist Du?“ Karin schluckte.
„Wieso bist Du so spät? Ist etwas passiert?“, fragte sie.
„Nein, alles in Ordnung“, antwortete er ungeduldig, „ich bin am Tierheim vorbeigefahren. Es wäre gut, wenn Du da wärst, das blöde Vieh hat mir den ganzen Arm zerkratzt und sitzt jetzt fauchend unter dem Sofa. Wo bist Du?“
Karins Stimme zitterte: „Ich bin am Hauptbahnhof. Ich habe einen Koffer dabei. Ich bin gerade angekommen.“ Sie zögerte. „Gewissermaßen“, fügte sie hinzu, „kannst Du mich abholen?“
Stille. Einen langen quälenden Moment fürchtete Karin, er würde einfach auflegen. Als er wieder sprach, klang seine Stimme anders als sonst, weicher, fast so wie früher: „Ich komme. Und hör auf zu weinen, was sollen denn die Leute denken!“
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