Am Pfingstabend sitzt Verena mit dem Rücken an die Holzwand gelehnt in der halbdunklen Küche. Von draussen hört sie Res’ Schritte, er nähert sich dem Haus. Res war wohl bei seinem Betkreis, er kommt in sonntäglicher Besinnlichkeit zurück, ganz versunken und nachdenklich schlüpft er in die Holzbodenfinken.
Res betritt die Küche und geht an Verena vorbei direkt in seine Kammer. Wenig später ist er zurück, doch scheint er Verena noch immer nicht bemerkt zu haben. In sich gekehrt, schlurft er ruhig zum Herd. Dort steht seit dem Morgen, seit Res das Haus überhastet verlassen hat, ein Topf mit gesottenem Anken. Es geschieht selten, dass Res etwas vergisst. Alles sperrt er sofort weg, in seinen Schaft, in den Speichergaden, in die Kammer, in den Keller.
Verena hat den Topf nicht angerührt. Niemand hat ihn angerührt. Verena auf ihrem Fensterplatz macht sich bemerkbar, sie will aufstehen.
«Masshalten wird vom Herrgott belohnt und nicht das Nehmen. Nehmen von dem, was einem nicht gehört», sagt Res laut vor sich hin. «Aber ihr habt heute wohl einen Festsonntag gehalten.»
Wortlos verlässt Verena die Küche, in der Kammer lehnt sie sich gegen den kalten Ofen. Keine Messerspitze Anken hat sie dem Topf entnommen. Inzwischen poltert Res draussen wie gewohnt herum. Aber dann zu den Stündelern rennen, deren Gebet ja gerade einmal für den Heimweg reicht und bis in die Kammer.
Verena Wyssler keucht den Hang hinauf. Annelies muss sich mässigen, um nicht davonzuziehen, ständig um Schritte voraus. Früher war die Mutter füllig und weich, in den Jahren, als Annelies noch auf ihren Schoss kroch. Stämmig ist die Mutter immer noch, aber seit dem letzten Winter ist sie mager geworden um ihre groben Knochen. Nun bleibt sie stehen, fächelt sich Luft in den Ausschnitt, räuspert von tief unten Schleim weg und sieht nochmals den Hang hoch.
Auch wenn ihr der Aufstieg beschwerlich fällt, die Mutter ist froh, das Haus zu verlassen.
Oben am Grat zeichnet sich die Silhouette eines Mannes ab, der sie beobachtet. Verena wendet sich wieder dem Berg zu und stapft los, Annelies folgt. Mutters Waden, die unter dem hochgeschürzten Rock hervorblitzen, sind drahtig und überzogen von einem Netz feiner roter Adern. Der Mann ist wohl einer von Salzmanns Knechten. Salzmann heisst der Bauer in der Multenweid, ein Nachbar.
Seit den heftigen Gewittern an Pfingsten ist es wieder kühl und nass geworden. Als sie auf dem Grat ankommen, grüssen sie den Mann.
«Das war ein steiler Hang», meint die Mutter und setzt sich, indem sie dem Fremden zulächelt, ins feuchte Gras. Aus den Augenwinkeln bemerkt Annelies, dass sie Anstalten macht, sich hinzulegen. Sie lässt es aber bleiben, sitzt nur nach hinten auf die Arme gelehnt schwer atmend da. Unbehaglich bleibt Annelies stehen. Schon, weil sie nicht, was die Mutter nicht zu stören scheint, den restlichen Weg mit einem feuchten Rock zurücklegen will.
Nach einer Weile sagt die Mutter, sie hätten unten bei Schlatter Quartier bezogen. Sie deutet in Richtung Haus, in dem sie jetzt wohnen. Der Mann nickt.
«Grunder Hans», sagt er schliesslich.
Als die Mutter wieder zu Atem gekommen ist, setzt sie sich gerade hin und blickt sich um. Plötzlich beginnt sie zu kichern, zuerst leise glucksend, dann immer offener, unbekümmert. Annelies kann nicht feststellen, worüber sie lacht. Der Mann bleibt gleichfalls ungerührt. Annelies schämt sich. In den Mundwinkeln der Mutter zeigen sich ihre Zähne, wie bei den Lefzen eines Hunds. Nun streicht sie sich den Rock glatt und schaut dem Knecht gerade ins Gesicht, der sofort wegsieht. So benimmt sich die Mutter, wenn sie sich beliebt machen will. Annelies stellt sich weiter abseits hin.
Auf der gegenüberliegenden Talseite zieht eine Kuhherde zur Tränke, einzelne Tiere bewegen sich gemächlich, andere schnell. Der Mann scheint die beiden Frauen vergessen zu haben, er blickt den Kühen nach.
Als das Gelächter geendet hat, beginnt die Mutter Fragen zu stellen. Sie will Auskunft über Felder und Tiere und wem diese gehören. Der Mann bleibt wortscheu, seine Antworten kommen zögerlich. Wenn sich die Mutter nur stillhalten würde, statt sich ungehörig anzubiedern bei fremden Leuten.
«Wo wollt ihr hin?», fragt Grunder schliesslich.
«Wir gehen um Saatkartoffeln, die Schwester in Röthenbach will uns geben, was sie noch hat.»
«Kartoffeln wollt ihr setzen?» Annelies weiss, was Grunder meint. Bald Brachmonat und die Erdäpfel noch nicht im Boden.
«Wir sind halt jetzt erst umgezogen», erklärt die Mutter.
Grunder sagt nichts, und eine Weile lang schweigen alle. Annelies hat sich sowieso kaum gerührt und nichts gesprochen. Sie betrachtet den Weg vor sich. Endlich verabschiedet sich der Knecht mit einem knappen Gruss.
Vielleicht ist es gar nicht Mutters Art. Vielleicht verstellen sich die anderen, wenn sie sich so bedächtig und gemessen geben. Vielleicht ist dieser Knecht ein bigotter Stündeler, so wie man es von Schlatter sagt. Sie selbst mag es eigentlich, wenn die Mutter lacht, ob es nun einen Grund gibt oder nicht. Aber viele Leute mögen es nicht, das war schon immer so. Und die Mutter hört nicht auf, wenn keiner einstimmt.
Der Knecht hat rechtschaffen gewirkt. Wie man sein sollte, denkt Annelies, wie man wohl sein sollte und wie die Mutter es nicht ist.
«Was denkst du, ist Salzmanns Knecht auch ein Stündeler?», fragt sie später die Mutter, als sie weitergehen. Verena bleibt stehen, überrascht zuerst und dann entrüstet. Nur weil einer nicht lärmt und angibt, weil einer ein ernsthafter Mensch ist, erwidert sie und weist die Tochter zurecht. Die Mutter redet sich richtiggehend ausser Atem, während sie alle Frommen und Pflichtgetreuen verteidigt und die Tochter ermahnt. Dass sie selbst den anderen manchmal als anstössig gilt, weil sie so unbekümmert und mit einem nassen Abdruck auf ihren Gesässbacken ausschreitet, merkt sie nicht.
Der Grunder wurde nach Langnau zitiert, zu berichten, was er weiss. Es befand sich dieser nämlich am fraglichen Abend, den 15. Hornung letzthin, auf dem Schafberg.
Er habe, sagte Grunder vor dem Richter, an jenem Abend weder den Schlatter noch den Wyssler angetroffen, sondern nur fremde Männer vorgefunden. Es sei zwischen halb à neun Uhr gewesen, dass er, auf dem Schafberg angekommen, daselbst zweimal bei der Haustür geklopft habe. Während er noch wartete, seien zwei ihm unbekannte Mannspersonen oberhalb der Bühnenbrücke hindurch gegen den Hausecken hinabgegangen. Wer diese Männer waren, wisse er nicht zu sagen. Aus Angst, es möge etwa etwas Unrichtiges vorgefallen sein, habe er sich sogleich entfernt.
Das ist, was der auf Citation erschienene Grunder Johann, des Johannes und der Elisabeth, geb. Salzmann, Sohn von Vechigen, Knecht bei Salzmann Peter in der Multenweid, geb. 1839, ledig, Soldat der 23. Füsilier-Companie des 30. Bataillon in Langnau, beim Richter auf geeignete Fragen deponiert hat.
Verena erkennt die Schwester von Weitem, sie winkt und juchzt ihr zu, während sie mit Annelies den Weg zum Haus hinuntersteigt. Die Schwester arbeitet mit ihren zwei Töchtern im Garten. Als sie Verenas Rufe hört, legt sie die Hacke hin und winkt zur Antwort mit den Armen.
Fast gleichzeitig treffen sie auf dem Vorplatz ein. Die Schwestern umarmen sich, Annelies begrüsst die Cousinen mit einem Handschlag. Die Besucherinnen werden hinters Haus gebeten zu einem Tisch auf der Laube. Verenas Schwester Magdalena holt aus dem Keller einen Krug mit kühler Schotte und füllt daraus zwei Gläser. Durstig greift Verena nach dem Getränk.
Die Frauen setzen sich hin, Verena lockert ihr Hemd und atmet seufzend aus. Der Weg hierher nach Mühleseilen, einem Weiler der Gemeinde Röthenbach, war weit.
«Jetzt wohnt ihr also beim Vetter im Schafberg, beim Resli?», fragt Magdalena und springt gleichzeitig erschrocken auf. Sie wird von einer Hornisse verfolgt, die sie fuchtelnd zu vertreiben versucht. Marianne, die ältere ihrer Töchter, zieht sich das Tuch vom Kopf und schlägt damit nach dem Insekt, bis es zu Boden fällt.
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