SARAH MICHAELA ORLOVSKÝ
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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.deabrufbar.
2. Auflage 2014
© Verlagsanstalt Tyrolia,Innsbruck
Umschlaggestaltung:Nele Steinborn unter Verwendung
eines Fotos von fotolia.com
Layoutgestaltung:Nele Steinborn, www.steinborn.at
Schrift:Henriette regular und italic (Typejockes), Helvetica Neue light und medium
Druck und Bindung:Druckerei Theiss, St. Stefan
ISBN 978-3-7022-3368-6 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3421-8 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Der Text „Gott schuf die Sonne“ auf den Seiten 43 und 44 stammt aus: Christa Reinig, Sämtliche Gedichte, mit einem Vorwort von Horst Bienek, Düsseldorf, Eremiten-Presse, 1984. Wir danken dem Verlag für die Abdruckerlaubnis.
Das Bibelzitat (Psalm 142) auf der Seite 176 ist entnommen aus der ökumenisch verantworteten Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift.
© 1980 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart
Handlung und Personen dieses Romans sind völlig frei erfunden und haben nie woanders existiert als in meinem Kopf und auf dem Papier.
Es kann aber durchaus sein, dass irgendwo in Armenien eine Handvoll junger Menschen lebt, die mir geholfen haben zu verstehen, wie es ist, wenn dich alle behandeln, als wärst du behindert. Nur, weil deine Zunge oder deine Arme oder deine Beine nicht denselben Bewegungsradius haben wie die der meisten Leute.
Dafür möchte ich mich hier bedanken.
Sarah M. Orlovský
Die Trage quietscht, als der Notarzt sie ins Innere seines Wagens schiebt. Schwester Miki klettert hinein und setzt sich neben Sirup. Seine Hand hängt schlaff über den Rand der schmalen Matratze. Schwester Miki nimmt die Hand und legt sie in ihren Schoß. Sie massiert Sirups Finger. Ich habe ihn berührt, vorher, als er auf der Erde gelegen ist. Seine Hand war eiskalt. Eis-kalt. Wie tot.
Ich habe mir so oft ein Leben ohne Sirup gewünscht. Aber jetzt gerade wünsche ich mir nichts mehr, als dass er überlebt.
KAPITEL 1
ANA
KAPITEL 2
ANA
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
ANA
KAPITEL 10
ANA
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
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KAPITEL 14
KAPITEL 15
ANA
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
ANA
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
ANA
KAPITEL 24/ICH
„Manchmal trage ich zu viele Geschichten mit mir herum, die nicht mir gehören. Dann habe ich oft das Gefühl, dass mir alles zu viel wird“, sagt Schwester Miki. „Aber ich habe einen Trick. Soll ich ihn dir verraten?“
Ich nicke halbherzig.
„Ich schließe einfach die Augen und öffne meinen Kopf“, fährt Schwester Miki fort, „und alle Gedanken fließen heraus. Ich lasse alles los, was nicht mir gehört. Und dann öffne ich die Augen und stelle mir vor, dass ich alles zum ersten Mal sehe.“ Sie lächelt. „Da kommen oft ganz erstaunliche Dinge zum Vorschein.“
Das ist wieder so ein Spruch, den niemand versteht. Physiotherapie heißt, dass Schwester Miki mir die Knochen wieder einrenkt und meine Gelenke massiert, damit ich in Ruhe schlafen kann. Ohne diese elendigen Schmerzen. Aber sie zieht und dreht und massiert und dabei redet sie ohne Unterbrechung, die ganze Zeit, bis mir am Ende der Kopf weh tut.
Meine Augen schließen und den Kopf öffnen. Genau …
Ich kann mir gut vorstellen, den Bäcker oder den Busfahrer oder den Postbeamten wie zum ersten Mal anzusehen. Das geht leicht. Wenn ich die Augen zumache, bin ich mir nicht einmal ganz sicher, wie sie aussehen.
Aber hier, zu Hause? Ich kenne alle hier fast mein ganzes Leben lang. Eilis singt und Sirup rennt und Gaya grummelt und Tiko träumt von einem Schloss, in dem sie Prinzessin sein kann. Ich weiß, wie sie sind. – Wie leer muss ich meinen Kopf machen, bis ich all das vergesse?
Ich merke, wie Schwester Miki mich anstarrt. Ihre milchblauen Augen schauen ernst. Gleichzeitig lachen sie irgendwie, tief drinnen. Schwester Mikis Gesicht ist jung, fast ohne Falten, aber die Haarsträhnen, die unter dem Schleier hervorlugen, sind schneeweiß. Keine Ahnung, wie alt Schwester Miki ist. Wenn sie selbst Kinder hätte, wären die sicher jünger als wir.
Aber sie hat keine eigenen Kinder.
Sie braucht auch keine. Sie hat ja uns.
„Bewahre dir diesen Blick, Hovanes“, sagt Schwester Miki lächelnd.
Ich werde rot.
„Probier es heute einmal aus.“
Es ist schön warm draußen. Auf der Veranda sitzt Eilis, ein Kissen im Nacken. Sie hat die Augen geschlossen und hält das Gesicht in die Sonne. Wahrscheinlich schläft sie. Ich schleiche mich vorsichtig an sie heran.
Da höre ich sie summen.
Als mein Schatten auf sie fällt, öffnet Eilis die Augen. Sie hat Augen wie schwarze Löcher. Große, schwarze Löcher, die alles aufsaugen. Manchmal falle ich selbst hinein, mit dem Kopf voran und dann ist mir wohl.
Eilis sieht alles. Die kleinsten Dinge. Manchmal ist sie ziemlich verrückt. Wenn sie einen Regenwurm sieht, zieht sie den Bremshebel an ihrem Rollstuhl. Einmal ist Schwester Rosa mit ihr in den Straßengraben gekippt, weil Eilis für eine Nacktschnecke gebremst hat.
Manchmal weint sie. Sie sagt, wenn sie zu viel sieht, wird sie traurig. Keine Ahnung, wieso.
Ich rutsche langsam mit dem Rücken an der rauen Hauswand hinunter, bis ich am Betonboden sitze, das Kinn auf die Knie gestützt. Es ist schön warm hier. Warm und ruhig.
Plötzlich bewegt sich etwas. Ein Schatten huscht zwischen den Apfelbäumen hindurch. Ich will Eilis anstupsen, da geht es schon BAKABAMM und die Tür knallt zu. Eilis zuckt zusammen. Ihre Hand schlägt gegen die metallene Armstütze am Rollstuhl. Sie verzieht das Gesicht vor Schmerz und saugt zischend die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein.
Eilis sieht die kleinsten Dinge, aber in die Zukunft sehen kann sie nicht. Dabei muss man kein Hellseher sein, um sich auszurechnen, dass gleich eine Tür zuknallt – BAKABAMM! – oder ein Glas runterfällt – KALIRRRRR! – oder jemand indianerheult – AIAWUUUUAIAIAIAIAI! –, wenn Sirup vorbeisaust.
Sirup ist am längsten von uns allen hier. Seine Mutter wollte ihn nicht. Das haben die Schwestern zwar nie so gesagt, aber das müssen sie auch nicht.
Sirup liebt Sirup. Immer schon. Am meisten mit Himbeergeschmack. Er würde ihn ohne Wasser trinken, wenn er könnte. Sogar sein erstes Wort war „Sirup“. Normalerweise sagen Babys zuerst „Mama“ oder „Papa“, hat Schwester Rosa erzählt. Aber Sirup hatte ja keine Mama. Und einen Papa auch nicht.
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