Wenigstens sind Sommerferien.
Ich mag die Schule, aber in den Ferien sind die Tage friedlicher. Sie sind ohne Stillsitzen und Aufpassen und Aufzeigen und sie gehören mir.
Außerdem haben die Internate zu.
Ich kenne nicht viele Leute, die ins Internat gehen. Eigentlich kenne ich nur Lucine. Lucine musste ins Internat ziehen, weil ihre Schule in der Stadt ist. Sie kommt nur mehr selten heim und wenn sie heimkommt, besucht sie uns trotzdem nur manchmal. Aber jetzt hat das Internat zu und sie wohnt ganz hier bei ihren Eltern. Da hat sie Zeit, Eis zu essen und ihre Freunde zu besuchen, jeden Nachmittag, so oft sie will.
Meistens ruft sie nicht einmal vorher an. Wenn jemand zu Besuch kommen will, muss er immer zuerst Schwester Rosa anrufen. Sonst sagt Schwester Rosa: „Es tut mir leid, wir empfangen gerade keinen Besuch, bitte melden Sie sich vorher an.“
Bei Lucine sagt sie das nie. Lucine kann einfach so kommen. Das hat sie schon immer so gemacht, schon im Kindergarten. Gestern hat sie trotzdem angerufen. „Ich komme morgen vorbei“, hat sie zu Schwester Rosa gesagt. „Irgendwann am Nachmittag.“
Jetzt ist es schon drei Uhr.
Aber das macht nichts. Lucine kommt bestimmt. Tiko und Eilis warten schon seit dem Mittagessen vor dem Haus. Tiko hat sich geweigert, ihr Mittagsschläfchen zu halten.
Ich würde auch lieber im Schatten unter dem Vordach sitzen. Mir ist heiß. Aber zum Sitzen ist keine Zeit. Den Kaninchen ist auch heiß in ihrem dicken Fell. Und im Geräteschuppen ist es stockdunkel. Sie haben sicher Angst. Sie brauchen endlich einen Stall.
Die Glocke schrillt. Tiko springt auf und sprintet zum Tor. Da läutet es schon wieder.
Zwei Mal kurz, ein Mal lang.
Lucine.
Ich sammle die verbogenen Nägel ein und richte mich auf. Uff, mein Rücken tut so weh …
KABUMM! – die Tür. Und Sirup rennt. Dieses Mal kommt er zu spät. Er rennt trotzdem. Die Schottersteine fliegen unter dem Druck seiner Schuhe in alle Richtungen davon. Es ist ohrenbetäubend laut. Ein Stein fliegt direkt in Schwester Rosas Blumenbeet.
Sirup überholt Tiko genau vor dem Tor. Tiko schimpft, ganz leise, sie braucht ihre Luft zum Laufen.
„Immer machst du Unangenehmheiten!“, zetert sie.
Zu dritt kommen sie um die Ecke. Lucine streichelt Tikos Hand. Sirup macht ganz große Augen. Er redet wie der Nachrichtensprecher im Radio. Nur schneller.
„Und wir haben Hasen bekommen! Wir bauen einen Stall!“ Seine Stimme überschlägt sich.
Wir bauen einen Stall. Na klar. Das Einzige, was Sirup produziert, ist heiße Luft.
Sirup fuchtelt mit Händen und Armen. Er zeigt Lucine, wie groß die Kaninchen sind. So wie er die Arme streckt, sieht das eher aus, als hätten wir ein Pferd oder eine Kuh gekauft. Lucine beißt sich auf die Unterlippe und dreht den Kopf. Sie sieht mich.
Sieht mich an.
In der Schule haben wir besondere Wörter gelernt. Für Augenfarben. Es gibt meergrüne Augen oder eisblaue oder bernsteinfarbene. Aber diese Wörter passen nicht zu Lucine.
Lucines Augen sind schön. Sie sind ein bisschen wie Sonne oder Stroh.
Ich glaube, Lucines Augen sind blond.
„Hoi, Hovo“, sagt Lucine.
Ich nicke ihr zu und versuche ein Lächeln ohne Spucke. Es ist so heiß hier. Tiko zieht an Lucines Hand. Immer will sie Prinzessin spielen, wenn Lucine kommt.
Sirup steht da, mit offenem Mund, als wollte er etwas sagen. Aber es kommt nichts mehr.
Ich kneife die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und starre Sirup an. Er starrt zurück. Langsam wird er unsicher. Ich zeige mit dem Kopf in Richtung Haus.
Sirup knurrt und trottet davon.
Gewonnen.
„Was hat er denn?“, fragt Lucine verwundert. Ich zucke mit den Schultern und greife mir einen neuen Nagel. Ich will das Drahtgitter am Holzrahmen befestigen. Verflixt! Immer rutscht das Gitter über die Nägel und dann hängt es durch. Das kann doch nicht sein!
„Das wird wohl der Hasenstall, von dem mir Sirup erzählt hat?“, meint Lucine.
Sie geht in die Hocke. Noch immer hält sie Tikos Hand. Tiko steht ganz schief da. Sie weiß nicht, ob sie stehen, sich hinhocken oder Lucines Hand auslassen soll.
„Hovanes bastelt das schon drei Tage lang“, sagt sie und kauert sich doch neben Lucine, auf den heißen Kies, die Nase zwischen den Knien. Ich seufze zur Bestätigung.
„Ganz schön viel Arbeit, so ein Stall, hm?“, meint Lucine. „Kann ich die Hasen mal sehen?“
„Sie sind im Schuppen! Komm, ich zeig sie dir!“, ruft Tiko, verwandelt sich in einen Gummiball und springt davon.
Unsere Augen müssen sich erst an die dunkle Staubluft gewöhnen. Aber den Albino sehen wir gleich.
„Oh, sind die süß!“, haucht Lucine. „Und schon so groß!“
„Die werden noch größer“, prahlt Tiko. „Das sind nämlich Hasenriesen.“
Lucine starrt gebannt in die Kiste. Die drei Mümmelmänner hoppeln herum. Sie kümmern sich gar nicht um uns. Lucine liest einen Grashalm vom Boden auf und steckt ihn durch einen Spalt in die Kiste.
„Tststs“, lockt sie.
„Das ist langweilig“, mault Tiko. Sie schlurft hinaus.
Wir sind allein.
„Brauchst du vielleicht Hilfe?“, fragt Lucine.
Lucine hilft immer. Sie ist ein Engel, sagt Schwester Rosa. Ich nicke begeistert und strecke beide Daumen hoch. Das sieht dämlich aus. Aber Lucine schaut sowieso nur auf die Kaninchen.
Vier Hände schaffen viel mehr als zwei. Lucine ist so geschickt. Sie bohrt Löcher in den Holzrahmen und fädelt den Blumendraht abwechselnd durch das Holz und das Drahtgitter. Es dauert gar nicht lange. Ich schraube noch die vier Stelzen an, damit der Stall nicht direkt am Boden steht. Ratzfatz.
Fertig!
Nebeneinander hocken wir in der Sonne und bewundern unser Werk.
Lucine dreht ein Gänseblümchen zwischen ihren Fingern. Dann steckt sie es sich zwischen die Zehen.
„Wie willst du die Hasen da reinbringen?“, fragt sie nach einer Weile.
Meine Kinnlade klappt nach unten. Ich spüre einen Speichelfaden im Mundwinkel.
Da ist ein Fehler. Ich habe einen Fehler gemacht. Der ganze Stall ist falsch. Die Kaninchen können nicht rein. Der Stall ist auf allen Seiten zugenäht. Knallbumm zu!
Lucine ist ganz rot im Gesicht. Sie presst die Hand gegen den Mund. Sicher findet sie mich blöd.
Sie lacht und legt mir dabei eine Hand aufs Knie.
„Sei mir nicht böse“, prustet sie. „Aber sieh dir das einmal an! Das ist grenzgenial! Das gehört ins Museum!“ Sie lacht und lacht und lacht, bis ihr die Tränen kommen.
Ich lache mit. Ich kann gar nicht anders.
Ich habe einen Fehler gemacht.
Aber das macht nichts.
Schweißgebadet wache ich auf und weiß im selben Augenblick: Es war nur ein Traum. Es ist immer nur der eine, selbe, hässliche Traum. Er kommt daher wie eine Erinnerung, verschwommen, in Braun-Grau. Bis Mama mir den Rücken zudreht und die Tür aufmacht. Ihr Mantel ist gelb. Ich sehe ihre schmalen Schultern und den eckigen Koffer und ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht. Das Geräusch ist so laut wie die Stille.
Ich möchte ihr hinterherlaufen. Mich ihr in den Weg stellen. Sie soll mich ansehen.
Wenn sie mich sieht, bleibt sie hier.
„Mama!“, möchte ich schreien. „Mama!“
Ich möchte ihr nachlaufen, aber ich habe kein Gefühl in den Beinen. Ich habe überhaupt kein Gefühl, außer dieses eine, das mir ins Genick drückt, diese Angst. Ich öffne den Mund und ich fühle, wie meine Stimmbänder aneinander reiben.
Es kommt kein Ton. Weil mein Leben ein Stummfilm ist.
Ich bleibe einfach sitzen, wo ich bin, und weine.
„Weißt du, welcher Tag heute ist?“, kräht Tiko.
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