Richard R. Bernhard
Als grüne Tomaten in den Weihnachtsstollen kamen
Erzählung
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Richard R. Bernhard Als grüne Tomaten in den Weihnachtsstollen kamen Erzählung Dieses ebook wurde erstellt bei
1. – Der Anruf
2. - Ende 90er Jahre - Zwei Männer
3. - Zweite Hälfte der 80er Jahre – Im Frühjahr
4. - 80er Jahre – Die Struktur
5. - 80er Jahre – Ideologische Mühlsteine
6. - 80er Jahre – Im Labor
7. - Jahrzehnte zurück
8. - Zweite Hälfte der 80er Jahre – Ort, wo man sich niederlässt
9. - Jahrzehnte zurück - Vorstudienanstalt
10. - Zweite Hälfte der 80er Jahre – Kommunikationsmittel
11. - Vor Jahrzehnten - Studienbeginn
12. - 80er Jahre – Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
13. – Jahre zurück – An der Basis der Produktion
14. – Zweite Hälfte der 80er Jahre – Kleingarten und Datsche
15. – Jahre zurück – Der Mensch ist nicht gern allein
16. – Ende der 80er Jahre –
17. – Ende der 80er Jahre – Vorübergehende Abwesenheit
18. – Ende der 80er Jahre – Schwerter zu Pflugscharen
19. – Ende der 80er Jahre – Gespräch mit Freunden
20. – Ende der 80er Jahre – Wandern
21. – Ende der 80er Jahre - Jahresendfeier
22. – 1989 - Saunatag
23. – 1989 – Erfolg im Labor
24. – Feuersturm über Dresden
25. – 1989 - Frauentag
26. – 1989 - Rotlichtbestrahlung
27. – 1989 - Walpurgisnacht
28. – Dixie vereint
29. - Aufbruch
30. – Keine Gewalt
31 . – Anarchischer Zustand
32. – Nahes Land – bisher fern und unbekannt
33. – Neue Arbeit in der Fremde
34. – Der Kapitalist eignet sich den Mehrwert an
35. – Vorzeit und Jetztzeit
36. – Vergessener Geburtsname
Impressum neobooks
Richard R. Bernhard
Als grüne Tomaten in den Weihnachtsstollen kamen
Erzählung
Inhaltsverzeichnis
„ Väter soll man weder sehen noch hören“ Oscar Wilde
Über ein Problem sinnend, saß Ulrich Thalheim an seinem Schreibtisch zwischen Papierbergen, aufgeschlagenen Ordnern und seitlich deponierten Bücherstapel, aus denen Lese- und Merkzettel herausschauten. Während ihn seine Frau oft geißelte, dass doch in diesem undurchdringlichen Papierdickicht ein unproduktives Chaos herrsche, verteidigte er seine ganz persönliche Unordnung an Papier, Notizen, angefangenen Manuskripten. Für ihn als kreativ Denkenden gelte das Chaos als Inspirationsquelle. Jeder wichtige Gedanke müsse auf einem Zettel festgehalten werden. Während eines Telefonates sei es oft notwendig, rasch Stichworte zu notieren.
Anders sein jüngerer Kollege in der Nachbarabteilung der Firma, der Zettelwirtschaft verabscheute, Aktenschränke als verstaubt und altmodisch ansah, eine Lanze für Papierminimalismus brach und das papierlose Büro als moderne Vision des Arbeitens propagierte. Sein Schreibtisch war immer aufgeräumt. Hinterließ er beim Vorgesetzten einen besseren Eindruck?
Während im Computer vordergründig vielleicht eine Ordnung von A bis Z zu finden sei, stöbere Thalheim im Regal, in Dokumenten, in Büchern oder in Aktenbergen nach querverbindenden Problemen. Das Aufschnappen auftauchender Begriffe rege ihn zu Analogieschlüssen an. Er verteidigte seine Assoziationsräume, die im Computer verloren gingen und dem Menschen eigen seien und ihn schöpferisch machten.
Am Telefon auf Thalheims Schreibtisch kündigte eine Chopin Melodie einen Anruf an. Der sportliche, groß gewachsene Thalheim mit links gescheiteltem Haar schaute auf das Display und erkannte die Nummer seiner Stiefmutter. Noch gedankenversunken, löste sich die den Kopf stützende Hand von seinem Haupt und griff zum Mobilteil, unwillkürlich straffte er den Oberkörper und nahm eine aufrechte Haltung ein:
„Ja.“
„Jung, dein Vater liegt im Sterben. Wenn du ihn noch einmal sehen willst, dann komm schleunigst nach Hause.“
Am anderen Ende der Telefonverbindung gab seine Stiefmutter unvermittelt ihre Mitteilung von sich. Er konnte sich jetzt vorstellen, wie sie kerzengerade an der Wand lehnte, die spitze Nase und das Kinn leicht nach oben gehoben, ebenso wie sie, die Hotelbesitzers-Ehefrau, immer ihre Befehle im energischen Tonfall an die Angestellten weitergab. Sicherlich hatte sie ihre rotbraunen Haare hochgesteckt, die Lippen mit Rouge betont und die Wangen gepudert. Häufig wurde sie von männlichen Gästen wegen des Mahagonirots ihrer Haare bewundert. Von manchen war auch das Sprichwort leise murmelnd zu hören: Rotes Haar, spitzes Kinn, da sitzt der Teufel drin. Diesem oder jenem wird das Klischee über Rothaarige in den Sinn gekommen sein, wonach dieser Frauentypus als geheimnisvoll, erotisch, verführerisch, stolz und streitsüchtig galt. Durch die Gasträume des Hotelbetriebs schritt sie stets majestätisch mit leicht erhobenem Haupt und gebieterischem Blick, ihre Augen registrierten jede Abweichung vom Standard der Abläufe. Gab es Divergenzen, wurden die Angestellten zurechtgewiesen.
„Ich habe keinen Vater“, sagte Thalheim bestimmend in das Mikrofon.
„Jung, es ist dein Vater.“
„Seine Beichte bei meinem letzten Besuch hat mir nur einen Fremden gezeigt. Er hat meine Mutter auf dem Gewissen. Mein Bruder und ich, wir mussten als Kleinkinder und die Jahre danach in der Fremde aufwachsen.“
Unbewusst fasste er sich an die Nase.
„Jung, er ist dein Blutsverwandter.“
„Ich habe nur einen Erzeuger. Es gab keine Vater-Kind-Beziehung. Er hat uns nie umsorgt, nicht auf den Arm genommen, er hat uns in kritischen Momenten nicht beigestanden, er gab uns keinen Schutz, wir hatten keine sichere Umgebung, er hat sich nicht für uns interessiert.“
Thalheim neigte seinen Kopf zur Seite. Sein Blick blieb auf dem Selbstbildnis mit der Distel des Dresdner Malers Curt Querner haften, das rechts von seinem Schreibtisch gemeinsam mit Querners Aquarell Schneeflecken vor Karsdorf und Kipse hing. Das Symbol der Distel als Verbildlichung des Widerspruchs, der Divergenz, des Einspruchs, vielleicht sogar des Protestes fand Thalheim immer spannend und anregend.
Das Telefongespräch war beendet.
Auf dem Fenstersims vor Thalheims Schreibtisch war eine grau-braune Taube gelandet. Der kleine rundliche Kopf neigte sich und pickte die Krümel auf, welche Ulrich Thalheim als Vogelfutter gelegentlich auslegte. Der Anblick der Taube rief in diesem Moment in ihm unweigerlich Assoziationen zu Aschenputtel hervor. Wie sich doch die Stiefmütter in ihrem Wesen glichen.
Zwischen Thalheim und seiner Stiefmutter bestand eine große emotionale Distanz. Er verspürte keine Familienharmonie. Mit strenger Miene und scharfer Stimme erteilte sie in seiner Jugendzeit ständig Aufträge. Im Garten hatte er auf den Knien Unkraut zu jäten. Die in Großvaters Stall eingestellten Ziegen mussten auf die Weide gebracht werden und der Stall war auszumisten. Er fühlte sich wie die Pechmarie im Märchen, während die Tochter der Stiefmutter ihren Tag nach eigenen Vorstellungen verbringen konnte.
Einige Tage später teilte die Stiefmutter mit, dass Vaters Seele den Leib verlassen habe und sich nun im Himmel bei Gott befände.
Als Naturwissenschaftler sah Thalheim den Tod als Ende des individuellen Lebens. Die Lebensfunktionen fielen unumkehrbar aus. Es war das Ende aller lebenserhaltenden biochemischen Vorgänge und aller Funktionsabläufe.
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