Wie so häufig konnte sich Dr. Hanson als schauspielerischer Darsteller produzieren. Er setzte sich in seinem Stuhl zurecht, gab seinem Gesichtsausdruck das entsprechende Pathos und seiner Körperhaltung den dazu passenden Habitus. In seiner Einleitung betonte er, es bewege ihn stark, wenn er heute über die Perspektive von Dr. Thalheim entscheiden müsse. Auf dem Tisch stand ein Plastikbehälter. In solchen Behältern wurden Chemikalien angeliefert. Thalheim starrte auf das Etikett. Er erkannte, dass es sein gestaltetes Etikett war – mit der Computerschrift und den von ihm gewählten Code für die Bezeichnung der Substanzen, die sich darin befanden.
Hanson wollte wissen, welche Bedeutung der Code habe, was sich dahinter verberge.
Nun hatte Thalheim schon einige Sekunden auf das Etikett geblickt, ohne einen Ton zu sagen. Die Überfalltaktik war Hanson gelungen. Thalheim war für kurze Zeit sprachlos, sein Schweigen wurde wahrscheinlich als eine Art Schuldeingeständnis gewertet.
Daraufhin riss der etwas steif dasitzende Rechtsanwalt der Firma im dunklen Standardanzug die Gesprächsführung an sich. Der Rechtsanwalt, ein Mann von Ende vierzig, war dunkelhaarig, schon sehr faltig im Gesicht, sein Backenbart war kaum gepflegt. Seitlich unterhalb der Augen fiel eine kleine Narbe auf, vielleicht hatten sich hier die schlagenden Verbindungen verewigt. Thalheim erinnerte sich, dass der Rechtsanwalt in den vergangenen Wochen in einigen Abteilungen der Firma mehrmals für mehrere Stunden aufgetaucht war.
In einem militärischen, feindseligen Frageton mit krächzend blecherner Stimme prasselten die Fragen auf Thalheim nieder: „Haben Sie dieses Etikett geschrieben? Was verbirgt sich hinter diesem Code? Antworten Sie. Welche Bedeutung hat diese Geheimschrift? Welche Geheimbündelei ... “
Thalheim hörte nicht mehr auf die Fragen, seine Gedanken schweiften ab. Er hatte bisher auf keine Frage geantwortet. Trotzdem fragte der bärtige militante Rechtsanwalt unentwegt weiter.
„Was haben Sie beabsichtigt mit ...Warum ... Wieso ...?“
Thalheim nahm den Inhalt der Fragen nicht mehr wahr. Diese scharfe Frage- und Verhörtechnik und der Tonfall des Rechtsanwaltes erinnerten ihn an eine weit zurückliegende, sehr unangenehme Befragung durch einen Geheimdienstler im Osten, die in ihm damals Angstgefühle und Panik hervorgerufen hatten.
In dem Moment durchdrang ihn ein Gefühl von Unbehaglichkeit und Schaudern. Er hörte den Rechtsanwalt nicht mehr fragen, er nahm die Umwelt nicht mehr wahr. Er war jetzt wie im Trancezustand. Seine Gedanken waren wie gelähmt. Bilder der Begegnung mit diesem Geheimen, Bilder aus der Vergangenheit sausten in seinem Gedächtnis wie ein Film im Zeitraffer vorbei. Er sah diesen Paramilitär wieder vor sich, breitschultrig und glatzköpfig. Seine quäkende Stimme hatte er im Ohr. Die damalige Verhöratmosphäre stieg wieder in ihm auf. Auch damals war man mit bohrenden Fragen über ihn hergefallen.
3. - Zweite Hälfte der 80er Jahre – Im Frühjahr
„ Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe.“
Jacob Burckhardt
Im Frühjahr, es muss in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre gewesen sein, wurde Thalheim in das Büro von Martin Weise gerufen. Weise war Betriebsdirektor des Elbpharmwerkes in Dresden und thronte auf einem erhöht stehenden Stuhl. Weise trug die anscheinend gefärbten Haare relativ lang, sie bedeckten vollkommen seine Ohren. Seine Barttracht am Kinn pflegte er besonders auffällig. Zwar eiferte er nicht Salvatore Dali mit dem Schnurrbart nach, der meinte, dass ein Mann ohne Bart nicht richtig angezogen sei. Eher war der Spitzbart sein Markenzeichen, wie bei dem obersten Herren, der seinen Spitznamen danach erhielt. Für Weise war der Bart kein Mode-Accessoire, sondern ein Zeichen der Macht und der körperlichen Vitalität. Mit dieser Zierde der Männlichkeit könne er sich den Herausforderungen des Lebens stellen, wie er manchmal betonte. Die Betonung der Machtansprüche stand für ihn im Vordergrund.
An dem darunter stehenden Konferenztisch saßen ein Unbekannter und weitere leitende Angehörige des Werkes und Parteikader. Der Schreibtisch stand erhöht auf einem Podest, so konnte Weise von oben herab seinen Anweisungen mehr Gewicht verleihen. Auf dem Schreibtisch stand eine Leninfigur in Bronze, an der Rückwand hingen Bilder von Marx und Engels.
Weise strich seinen spitzen Kinnbart glatt, schaute zu dem Unbekannten, stellte den Gast als Oberstleutnant der Organisation vor, die verdeckt arbeite.
Während Thalheim beim Kontakt mit der ominösen Macht dubiose Empfindungen verspürte, schien zwischen Direktor Weise und der Staatsicherheit ein eher mephistophelisches Zusammenspiel zu wirken. Bei diesen Connections versorgte Weise die Geheimdienstler mit speziellen Informationen und erhielt dafür den Freibrief und die materielle Unterstützung für Reisen in die große Welt. Er erhielt die Möglichkeit, den eingeengten Mikrokosmos des eigenen Landes zu verlassen und ein anderes entwickeltes herkömmliches Gemeinwesen zu beschnuppern.
Der Oberstleutnant wünsche Auskunft über den Kollegen Chris Peschel, der von einer Jugoslawienreise nicht zurückgekommen und demzufolge republikflüchtig sei, sagte Weise. Peschel habe schon viermal den Antrag gestellt, mit Familie in Jugoslawien Urlaub zu machen, stets sei das abgelehnt worden. Diesmal sei eine Reise für ihn allein genehmigt worden. Der Stabsoffizier wolle wissen, was für ein Mensch dieser Peschel sei.
Weise forderte Thalheim auf, diese Frage zu beantworten, da er doch Peschels Vorgesetzter sei. Thalheim charakterisierte ihn als fleißig, effektiv und gewissenhaft arbeitend, er habe neue Lösungen erreicht und Anteil an Patenten.
Im scharfen Ton erwiderte der verdeckt Arbeitende, dass ihn dies weniger interessiere. Er wolle wissen, welche gesellschaftlichen Ansichten Peschel habe, worüber er diskutiert habe. Thalheim antwortete, dass sich Peschel in dieser Richtung nicht geäußert habe.
Der breitschultrige, glatzköpfige Stasi-Mitarbeiter mit hervortretenden Backenknochen lief im Gesicht rot an und stieß, Speichelreste auf den Lippen, die beim Sprechen in Richtung des gegenüber sitzenden Thalheim verspritzten, im militärischen Befehlston hervor:
„Dr. Thalheim, dass Sie ein guter Wissenschaftler sind, mag ja sein – aber in erster Linie sind Sie politischer Leiter. Also müssen Sie doch wissen, was Ihre Leute gesellschaftlich denken, welche Anschauungen diese haben, was sie in der Freizeit treiben, mit wem sie sich treffen. Also, wie ist das mit dem Peschel?“
Thalheim entgegnete, dass er in erster Linie Forschungsergebnisse hoher Qualität abliefern müsse, die Forschungsarbeiten effektiv zu organisieren habe und wenn sich jemand nicht über politische Fragen äußere, könne er auch nichts über dessen Ansichten sagen. Man könne nun mal keine Gedanken lesen.
Der Geheime nahm steife Haltung an und herrschte Direktor Weise an, er möge doch von seinem Hochsitz herunterkommen und hier unten am Tisch Platz nehmen.
Die anwesenden Organisierten ließen die Erklärung Thalheims nicht gelten. Es hagelte Fragen.
Auf Thalheim waren die strengen Blicke von zehn Augenpaaren gerichtet. Er hasste solch ein Klima, im Kreuzfeuer der Worte zu stehen, sich grundlos rechtfertigen zu müssen. Als er realisierte, dass er einer geballten Macht gegenüber saß, fühlte er sich plötzlich an eine weit zurückliegende große Mitgliederversammlung erinnert, in der er aufgrund einer nebensächlichen Äußerung, die monumental vergrößert und verzerrt wurde, über sehr lange Zeit Antwort auf ihn einprasselnde Fragen geben musste. Sein Klassenstandpunkt sei zu überprüfen. Er war Sanktionen ausgesetzt.
In derartigen Situationen gelang es ihm nicht immer, genügend Selbstbewusstsein zu entwickeln. In solch einer aufgeheizten Atmosphäre der Spannung wurde man klein gemacht, man wurde niedergehalten, man wurde verbal zur Unterwerfung genötigt, man verspürte den Druck von unzähligen imaginären Fäusten im Nacken, eine pure Selbsterniedrigung. Er wollte sich wehren, aber die passenden stichhaltigen Antworten konnte er nicht überzeugend formulieren, nur Stückwerk brachte er hervor. Disziplin der Organisation der Bewussten wirkte wie ein Korsett, wie eine feste Bandage am Hals, die immer straffer zugezogen wurde. Er hörte, Kritik und Selbstkritik sei das Lebens- und Entwicklungsprinzip der Organisation.
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