Ja, die Seele, die Lebenskraft, hatte den Körper verlassen. Wo war sie jetzt? Er zog sich am Abend in seiner Wohnung zurück, um ungestört einen Brief zu schreiben. Er verspürte das dringende Bedürfnis, der Seele seines Vaters zu schreiben, seine Gedanken über seinen Vater in Worte zu fassen. Wie sollte er beginnen, welche Anrede sollte er wählen? Vater im Himmel - diese Anrede war bereits besetzt. Auch zu Vater konnte sich Ulrich nicht durchringen. Natürlich war er Ulrichs biologischer Vater, der Erzeuger, aber die Vaterrolle hat er nie wahrgenommen. Ulrich begann:
Ich habe die Bilder deines Albums angeschaut. Auf mehreren Fotos stellst du dich in SA-Uniform, gestiefelt, stolzgeschwellt in Positur. Auf anderen hältst du das Parteibuch der NS-Partei lächelnd in die Kamera.
Mehrere Aufnahmen zeigen, wie du mit deiner SA-Horde, den Gummiknüppel in der Hand, anscheinend johlend und ‚Heil‘-rufend, um die Häuserblocks zogst. Wen wirst du gejagt haben? Wen wirst du wohl niedergeschlagen haben? Im Sportlerheim habt ihr die Hatz tüchtig begossen.
Dann begann der Krieg. Auch hier zeigen dich Bilder in selbstgefälliger, aufgeblasener Pose. Du musstest nicht in Schützengräben darben, du standest im Hinterland in der Feldbäckerei an dem Backofenwagen und bukst das Kommissbrot. Einige Mal warst du auf Fronturlaub und hast meinen Bruder und mich gezeugt. Während meiner Geburt muss es Probleme und Risiken gegeben haben. Es muss bei meiner Mutter zu vorübergehenden anfallartigen Erscheinungen mit Bewusstseinsverlust gekommen sein. Ich habe recherchiert. In Unterlagen war zu sehen, dass du mit deiner verbissenen Nazi-Einstellung zugestimmt hast, dass an meiner Mutter Maßnahmen der Eugenik vollzogen wurden. Niemand hatte gefragt, ob die Entladungen in den Nerven des Gehirns meiner Mutter während der Geburt einfache Stoffwechselstörungen, Störungen im Mineralhaushalt oder Zeichen einer Unterzuckerung waren. Im Sinne der ‚Rassenhygiene‘ hast du zugelassen, dass sie in eine Anstalt kam und systematisch dem Euthanasieprogramm unterworfen wurde, bis sie letztlich starb. Du hast zugestimmt, dass sogenanntes ‚minderwertiges ‚ lebensunwertes Leben‘ ausgemerzt wurde. Wie aus Unterlagen hervorging, ließ man sie allmählich verhungern.
Du hattest im Krieg und in der Gefangenschaft dein Kommissbrot, du brauchtest nicht zu hungern. Im Gegenteil, auf deinen Fotos war zu sehen, wie dein Brot ein Lockmittel für gefügige Frauen war.
Du hast unsere Mutter auf dem Gewissen. Sie war fern von uns Kindern. Wir hatten keine mütterliche Wärme, keine Mutterliebe, keine Fürsorge, kein Streicheln. Ganz klein, als Säugling, als Kleinkind wurden wir in die Fremde geschickt. Nie hatten wir die Geborgenheit einer Familie verspürt.
Das kann ich nicht vergessen. Du kamst aus dem Krieg zurück und warst für uns ein Fremder. Ein gemütliches, vertrauensvolles Zuhause hast du nie aufgebaut. Von deinen Kindern hast du dich systematisch entledigt.
2. - Ende 90er Jahre - Zwei Männer
„ Die Macht ist etwas, was sich im Spiel ungleicher Beziehungen entwickelt“ Michel Foucault
Zwei Männer traten aus der Eingangstür eines hohen, im Stil des Backsteinexpressionismus mit hartgebrannten Klinkern errichteten Hauses, dessen Fassade durch die Ornamente unterschiedlich farbiger Backsteine Lebendigkeit aber auch Spannung ausdrückte. Der Eingangsbereich wurde über vier Treppen erreicht, die wie bei einem Laubengang mit Kletterrosen überspannt waren. Mandelbäumchen wuchsen neben dem Treppenaufgang, Forsythiensträucher schlossen sich an und verdeckten teilweise die Fenster des Erdgeschosses, hinter denen sich Laborräume verbargen. Jalousien an den großen Fenstern versperrten den Blick ins Innere der Räume. An der Hausecke fügte sich eine kurze Steinmauer aus Natursteinen an, vor denen Büsche standen. Ein halboffenes Tor mit schmiedeeisernen Beschlägen trennte ein kleines Gartenareal ab.
Die Männer stiegen die vier Stufen hinunter, voran ein schmaler Grauhaariger, mit langer Mähne, gefolgt von einem fülligen, modisch adrett gekleideten Mann, der beim Hinaustreten ins Freie sagte: „Das hätte ich von dem Thalheim nicht gedacht.“
Der schmächtige Mann erwiderte: „Die Ereignisse liegen nun schon mehrere Jahre zurück.“
Hinter dem halboffenen Tor leerte in dem Augenblick Günter Koepp, ein Mitarbeiter der Firma, den Abfalleimer. Als dieser den Namen ‚Thalheim‘ hörte, hob er den Kopf, spähte durch den Torspalt und erkannte Dr. Hans Vogel, der in der vorherigen gemeinsamen Arbeitsstelle in Dresden die Nachbarsparte leitete.
Dr. Hanson, der ihm folgte, rief Dr. Vogel zu:
„Lassen Sie Ihr Auto hier stehen, wir fahren mit meinem Wagen zu einem urfränkischen Wirtshaus und nehmen dort das Mittagessen ein.“
Beide liefen um die Ecke und gingen zu Hansons Nobellimousine, die auf dem markierten Parkplatz stand.
Monate später.
„Herr Dr. Thalheim, Herr Dr. Thalheim – melden Sie sich bitte im Sekretariat“, dröhnte es durch den Betriebslautsprecher.
Dr. Thalheim - der technische Betriebsleiter der fränkischen Pharmafirma - inspizierte gerade die Abläufe in der Produktion im Nachbargebäude, als er die Aufforderung hörte. Er telefonierte mit der Sekretärin, die ihm ausrichtete, er solle sofort zu Dr. Hanson kommen. Die Stimme der Sekretärin kam Thalheim betont sachlich streng, geradezu amtlich vor. Er ahnte, dass ernste Probleme anstanden.
Thalheim ging zurück in sein Büro, um den Kittel gegen sein blau-grauweiß gewebtes Leinen-Sakko mit klassischem Reverskragen zu tauschen. Darunter trug er ein hellblau-weißes Hemd mit Ripsband und Saloon-Jeans. Es war ungeschriebenes Gesetz in der Firma: Die leitenden Angestellten erschienen in Hemd mit Krawatte und Jacke zur Arbeit und in der Managementetage durfte man sich nicht im Kittel blicken lassen. Thalheims Frau achtete sehr darauf, dass er immer adrett gekleidet war und alles farblich gut zueinander passte. Thalheim war leicht rot-grün-schwach, deshalb hatte seine Frau alle Hemden, Jacke, Hosen, Krawatten gekennzeichnet und nummeriert. Zu Hause in seinem Schrank hing eine Tabelle, die Auskunft gab, welche Kleidungsstücke zusammenpassten.
Im allgemeinem kam er im Alltag mit dieser Schwäche gut zurecht. Das erste Mal hatte man die Farbenfehlsichtigkeit anlässlich der medizinischen Tauglichkeitsuntersuchung zur Musterung festgestellt. Als er auf der Farbtafel die grauen Punkte in roter bzw. grüner Umgebung identifizieren musste und jeweils die Punkte in der Komplementärfarbe der Umgebung erkannte, trommelte der Arzt das gesamte medizinische Personal zusammen und verkündete, dass hier einer sei, der Rot mit Grün verwechsele und wohl möglich bei Rot über die Kreuzung führe. Ob es ein Fall für die Polizei sei?
Während des Pharmaziestudiums hatte Thalheim im Abschnitt Maßanalyse die Werte von Analysen, die auf Rot-Umschlag beruhten, immer mit einem Faktor korrigiert, den er im Vergleich zu anderen Kommilitonen empirisch ermittelt hatte. Im beruflichen Alltag ließ er Farbbestimmungen von seinen Laborantinnen durchführen.
Dr. Ulrich Thalheim war von stattlich- sportlicher Gestalt. Aus seinem Blick war Loyalität und gering auch eine Treuherzigkeit zu erkennen. Sein dunkles, kurzes Haar zeigte an den Schläfen einen leichten Grauschimmer. Wenn er morgens in den Spiegel schaute, um seinen Scheitel zu ziehen, fielen ihm täglich die Falten von den Nasenflügeln zum Mundwinkel auf. Er war eitel. Um der Zunahme der Faltenbildung entgegen zu wirken, griff er abends in den Cremetopf seiner Frau und trug eine dicke Cremeschicht auf. In Abständen beschwerte sich seine Frau, dass der Überzug des Kopfkissens rasch speckig würde, dünne Cremeschichten würden auch ihre Wirkung entfalten. Im Spiegel entdeckte er eine gewisse Gefallsucht, aber auch seine Willensstärke. In der Antike galt der Spiegel als Abbild der Seele, die darin gefangen war. Aus Kinderzeiten wusste er aus Märchen und Sagen, dass der Spiegel übersinnliche Eingebung, Voraussagungen, Erkenntnis bringen konnte. So sah er den Spiegel als Symbol der Verbannung des Bösen. Aber da war die Vorahnung.
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