Seit über fünf Jahren war er in der fränkischen Pharmafirma beschäftigt und für die Entwicklung, Qualitätskontrolle und Produktion verantwortlich. Er arbeitete fleißig und gewissenhaft, fast zwölf Stunden verbrachte er täglich in Labor und Büro. Zehn promovierte Naturwissenschaftler arbeiteten unter seiner Leitung, die meisten kamen frisch von der Universität. Sie waren froh, jemanden zu haben, der ihnen sagte, wo es lang ging .
Thalheim hatte Erfolge. Die Qualität der Produkte konnte bedeutend verbessert werden, neue Präparate wurden entwickelt, von den Behörden zugelassen und zur kontinuierlichen Produktion geführt. Der Umsatz stieg nachhaltig. Er hatte rationalisiert und die technischen Abläufe verbessert, aus der Laborfertigung war eine kleinindustrielle Produktion geworden, alles war in standardisierten Vorschriften festgehalten.
Als er seine Arbeit in der Firma begonnen hatte, saß im Keller ein Dutzend Hausfrauen an langen Tischen, die Bestandteile der Packungen in Schachteln steckten und verklebten. Ein anderer Trupp an weiteren Tischen füllte kleinste Mengen unterschiedlicher Flüssigkeiten in Miniflaschen und verschloss sie. Das war Vergangenheit. Nun wurde alles von automatisierten Anlagen erledigt.
In der Entwicklung konnte er mit seinen Mitarbeitern mehrere Patente anmelden. Er bestellte zahlreiche neue Maschinen - einfach nach Absprache. Er brauchte nur seine Wünsche für eine neue Ausstattung vorzubringen und die Spezifikation zu notieren; der Prokurist in der Managementetage, der stets von einer herben Rasierwasser-Duftwolke umgeben war, erledigte dann alles. Er machte das Geld beim Chef locker, holte Angebote ein und regelte die vertraglichen Fragen. Wollte er in seiner vorherigen Arbeitsstelle im Osten eine neue Maschine oder ein Gerät für seine Arbeiten haben, musste er Anträge in vielfacher Ausfertigung stellen, einem Gremium zur Stellungnahme vorlegen und die Anträge im Ministerium verteidigen. Nach etwa zwei Jahren wurden dann bei viel Glück die ersten Geräte geliefert.
Als er zu der Pharmafirma kam, konnte er es anfangs kaum fassen: Chemikalien wurden per Anruf bestellt und am folgenden Tag geliefert. Auf Importchemikalien hatte Thalheim im Ostteil des Landes zwei Jahre und manchmal länger warten müssen. Die Arbeit hier machte ihm Spaß, das Arbeitsklima war bis vor einigen Monaten sehr harmonisch und kollegial. Seine Leute hatten Vertrauen zu Thalheim.
Es war aber stets eine Gratwanderung, musste er doch in seiner Sandwichstellung oftmals den Kompromiss zwischen den Interessen seiner Leute und denen des Chefs suchen. Schon mehrmals wurde er von seinem Arbeitgeber ermahnt: „Sie sagen mir nicht alles.“
Thalheim machte ihm deutlich, dass er in seinem Verantwortungsbereich für die Klärung von Unstimmigkeiten zuständig sei.
Die Kollegen trafen sich auch mal nach Feierabend bei einem Glas Bier, wobei es immer bei der Anrede Sie blieb. Wenn sich Mitarbeiter so nach Feierabend oder anlässlich von Geburtstagen trafen, braute sich immer negative Stimmung seitens des Chefs zusammen. Solche Zusammenkünfte missfielen ihm.
Als Thalheim aus der Tür seines Büros trat, um in das Hauptgebäude zu gehen, baten ihn die Laborantinnen noch um Unterschriften unter einige Prüfprotokolle. Die Kontrolle der Werte nahm noch einige Minuten in Anspruch.
Beim Überqueren der Straße hörte er von mehreren Kirchen das Mittagsläuten. Es war Juli, überall blühte es. Auf dem Randstreifen neben dem Fußweg pickte eine Amsel in der Erde nach Futter, dem Aussehen nach – schwarz mit gelbem Schnabel – musste es ein Männchen sein. Eine zweite Amsel – bestimmt das Weibchen – saß unweit auf den Ästen eines höheren Strauches und gab Laute von sich. Was wird sie mitgeteilt haben? Das Männchen schien zu antworten.
Eigentlich ein schöner Tag. Aber der Tonfall der Sekretärin ging ihm nicht aus dem Kopf. Es fiel ihm ein, was er als Junge in kritischen Situationen immer zu sich selbst gesagt hatte: ‚Lieber Gott, mach, dass alles gut wird. Als Jugendlicher war dann ein…mach, dass ich Erfolg habe‘ daraus geworden. Seitdem er sich mit naturwissenschaftlichen Fragen – vorwiegend mit den Reaktionen in der Retorte – beschäftigte, hatte er von religiösen Ritualen Abstand genommen.
Von Hegels Dialektik und dessen Naturphilosophie versuchte er vieles als Methode bei seiner Arbeit anzuwenden. Als junger Bursche hatte er sich während des Studiums zu den Ideen der Utopisten und der Junghegelianer hingezogen gefühlt.
Thalheim stieg im Hauptgebäude die Treppen hinauf und steckte in der vierten Etage den elektronischen Schlüssel in den Schlitz am Türrahmen; ein Surren signalisierte, dass die Tür geöffnet werden konnte.
Der Vorraum, quasi das Wartezimmer in der Chefetage, war in einem kräftigen Hell-Dunkel-Kontrast gehalten, wobei das Helle vom Chrom und das Dunkle von edlen Hölzern herrührte.
Es lag nichts Unnützes herum, eine pedantische Ordnung drängte sich auf. Einige Fachzeitschriften lagen wohl geordnet auf einem kleinen Tisch mit zwei bequemen Stühlen mit Armlehne. Die Kollegen charakterisierten diese Etage als super-steril .
Die Sekretärin kam ihm entgegen und sagte, dass Dr. Hanson und der Rechtsanwalt, der die Firma in rechtlichen Fragen vertrat, auf ihn in der Bibliothek warteten.
Die Bibliothek war sehr geschmackvoll eingerichtet, edle Hölzer dominierten, die Gestaltung in einem betonten Hell-Dunkel-Kontrast setzte sich hier fort. Nur die Eingeweihten wussten, dass in der Tischplatte ein Projektor modernster Art für Vorträge usw. eingebaut war und sich per Knopfdruck in Funktion setzen ließ. Ebenso gut waren eine Leinwand und Getränke versteckt . Die Abblendlamellen am Fenster reagierten sensorgesteuert.
Als Thalheim eintrat, begrüßte man sich mit einem allgemeinen Grüß Gott , auf den sonst üblichen Händedruck wurde verzichtet. Thalheim sollte auf der anderen Seite des Tisches Platz nehmen.
Dr. Hanson wurde vom einfallenden Licht leicht seitlich angestrahlt, so dass seine Hakennase besonders zu Geltung kam. Sein Profil ähnelte dem eines Greifvogels, aber mit relativ vollem Gesicht. Der grauhaarige Endsechziger trug stets exquisite Kleidung, an diesem Tag war alles im Marinestil gehalten. Seine handgenähten Schuhe schienen immer mit besonders hartem Leder besohlt zu sein, damit sein kommandoartiger, bestimmender Schritt schon von weitem wahrgenommen werden konnte, sein Gang war immer militärisch, ja, geradezu majestätisch.
Dr. med. Georg Hanson, der Besitzer der Firma, hatte einen Teil seiner Werke und Laboratorien geerbt. Den größeren Teil seiner Unternehmen hatte er während der Blütezeiten der Marktwirtschaft in den 60er und 70er Jahre erworben. Er war stolz auf seine guten, weltweiten Verbindungen, die er zum Nutzen seines Unternehmens einzusetzen verstand. Er kam aus guten Verhältnissen, verfügte stets über ausreichend Geld und hatte fast zwölf Jahre ungestört studieren können. Er hatte Medizin und Tierheilkunde abgeschlossen, studierte einige Semester Schauspielkunst, Architektur und Kunstgeschichte, eignete sich einige Grundlagen der Betriebswirtschaft an und hörte noch in viele andere Gebiete hinein. Oft genug hatte er betont, durch seine umfassenden Studien sei er für alle Lebenslagen gut gerüstet.
Seine guten psychologischen Kenntnisse und die Beschäftigung mit der Schauspielerei befähigten ihn, die Körpersprache anderer schnell zu analysieren und deren Gedanken und Schwächen zu erkennen. War es eine spezifische analytische Begabung oder nur etwas Scharfsinn? Dr. Hanson hatte ein gutes Feeling dafür, die Schwächen anderer für sich auszunutzen.
Thalheim wusste, dass er sich bei heftigen Diskussionen oft durch seine betonte Körpersprache verriet . Verlegenheit, Ablehnung, Elan, Vorwärtsdrängen, Skepsis, Empörung, Zustimmung, Zögern, Eifer, Bestürzung, Triumph, Unterordnung – alles spiegelte sich in den Veränderungen seines Gesichtsausdrucks wider und wurde durch die Handbewegungen unterstrichen. Aus diesen Verhaltensweisen, verbunden mit einem unachtsam hingeworfenen Wort Thalheims, vielleicht auch dessen Bemühen, Gebärden zu verbergen, konnte Hanson Schlüsse ziehen. Zweifelsfrei kannte er die Schwachpunkte von Thalheim umfassend. Thalheim war kein Schauspieler, bestimmt hatte er schon oft unbewusst Einblick in seine Seele zugelassen. Er war eine ehrliche Haut , wie sein Großvater gesagt hätte. Die Marktwirtschaft mit ihrer robusten Durchsetzung von Eigeninteressen war im Osten nicht gefördert worden – eher im Gegenteil, es war die Ideologie des Feindes.
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