Auch sie war in das intime Hörigkeitsverhältnis eingebunden. So klangen solche Tage der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft in der Regel nach Rückkehr im exquisit eingerichteten, nur über Code zugänglichen Besucherzimmer des Werkes erotisch-zärtlich aus.
Auch im Ministerium verschaffte sich Weise Einflussmöglichkeiten. Über seine satanischen Verbindungen zum geheimen Sicherheitsdienst erhielt er kurz Einblick in die Personalakten von Verantwortlichen und konnte so kritische Punkte zum betreffenden Kader erkennen. Diese Kenntnis nutzte er, um die für sein Werk Zuständigen mit Andeutungen und Bemerkungen zu verunsichern und damit zugleich seine eigene Position zu stärken. So erwirkte er in den übergeordneten Organen prinzipielle Entscheidungen zu seinen Gunsten, so dass er perspektivisch für seine Anträge auf Reisen in die große Welt zu Tagungen, Symposien und zu führenden internationalen Unternehmen generelle Zustimmung erhielt. Die permanente Planerfüllung seines Werkes, neue international beachtete Präparate und seine eigenen hohen staatlichen Auszeichnungen wirkten dabei als weiterer Hebel.
So fuhr Direktor Weise regelmäßig zu internationalen wissenschaftlichen Konferenzen. Obwohl Weise als ehemaliger Feinmechaniker nicht die blasseste wissenschaftliche Ahnung zu den behandelten Themenkreisen hatte, nahm er sich heraus, ins westliche Ausland selbst zu fahren. Sinngemäß traf auf ihn der Sketch im Kabarett Herkuleskeule zu, in dem der Professor sagte: „Meine Mitarbeiter schicke ich zu Tagungen in die Ostländer. Ich selbst stelle mich persönlich bei internationalen Tagungen und Konferenzen dem ‚Klassenfeind‘ im Westen.“
So verschaffte sich Weise einen Informationsvorlauf. Er saugte die fachlichen Vokabeln förmlich auf und wendete sie auch richtig an. Somit erhielt er im Vergleich zu seinen Mitarbeitern, die er nicht für Reisen ins westliche Ausland vorschlug, zeitlich zu einem frühen Zeitpunkt Informationen über internationale Trends.
Auf diese Art versuchte er, auf die Mitarbeiter im Bereich Entwicklung Einfluss zu nehmen und eine Art von Informationsabhängigkeit zu erzeugen und gleichzeitig seine Autorität und seine Machtverhältnisse auszubauen.
Da Weise als gelernter Techniker inhaltliche Fragen, die also die chemischen und biologischen Prozesse und die pharmazeutischen Vorgänge in der Arbeit im Forschungs- und Entwicklungsbereich betrafen, nicht bewerten konnte, versuchte er über den von Hegel beschriebenen dialektischen Zusammenhang von Form und Inhalt Einfluss zu nehmen, wobei als Form die äußeren Bedingungen der Organisation angesehen werden sollen. Er versuchte, über die Form in die Struktur einzudringen, seinen Willen durchzusetzen und so Disziplin zu erzeugen. Da er meist hierfür die Dienstberatung mit den Leitern nutzte, war die öffentliche Wirkung nicht nur auf die Leiter, sondern auf die gesamte Belegschaft vorprogrammiert. Seine Zuträger im Entwicklungsbereich lieferten ihm genügend Beispiele, so dass er die neuesten Vorkommnisse unter dem Punkt Informationen und Sonstiges mit einfließen ließ.
Er kündigte gegen Mitarbeiter des Bereiches Entwicklung Disziplinarmaßnahmen mit Abmahnungen an, weil sie Getränke im Laborkühlschrank deponierten, weil sie bei Arbeiten im Sterillabor den persönlichen Handschmuck nicht ablegten, weil sie im Labor aßen und tranken, weil sie lebende Blumen im Labor aufstellten oder weil sie für Gänge außerhalb des Labors nicht den Laborkittel auszogen und ihn gegen einen Wegekittel wechselten.
Beim folgenden Punkt der Tagesordnung holte Weise dann weit aus und begann mit allgemein-politischen Anmerkungen zur kritischen wirtschaftlichen Situation des ostdeutschen Landes. Es seien deshalb international herausragende Leistungen in Forschung und Entwicklung gefragt, die zu Produkten führten, die sich auch im westlichen Ausland gut verkaufen ließen. Im Werk sollten deshalb Produkte entwickelt werden, mit denen die letzten Plagen der menschlichen Rasse – bestimmte Infektionskrankheiten – diagnostiziert und bekämpft werden könnten. Zum bevorstehenden Tag der Republik sollte das Werk entsprechende Verpflichtungen abgeben, die als Grußbotschaft an übergeordnete Bürokratieorgane, besonders an das Zentralkomitee der Organisation der Bewussten geschickt werden sollten. Thalheim wurde zum Projektverantwortlichen berufen.
Martin Weise ließ am späten Nachmittag Ulrich Thalheim, der nicht zur ersten Leitungsebene gehörte, in sein Büro kommen und teilte ihm den Beschluss des Leitungsgremiums persönlich mit, dass er für die neuen Staatsplanaufgaben als Projektverantwortlicher benannt worden sei. Diese Neuentwicklungen sollten auf dem Weltmarkt große Beachtung erfahren und sich gut verkaufen lassen. Thalheim war überrascht. Spontan erwiderte er, dass für einen sofortigen Beginn von Versuchen sicherlich viele Importchemikalien im Werk nicht vorhanden seien und man oft zwei Jahre und länger auf Lieferungen warten müsse. Weise herrschte ihn an, dass er mit seiner Truppe ohne Verzögerung mit den Experimenten beginnen solle. Er wolle nicht weiter darüber diskutieren.
Im weiteren Gespräch konnte Weise gegenüber Thalheim mit den brandneuen wissenschaftlichen Ergebnissen der besuchten Tagung brillieren.
Als Thalheim Weises Büro verließ, war der Arbeitsschluss lange vorbei, und es dunkelte bereits.
Weise eilte zum Tierstall, schnappte sich aus dem Futtervorrat eine größere Menge Möhren und verteilte sie in der Mitte des Hofes an den Büschen des kleinen Rondells mit Sitzplätzen, auf denen sich die Mitarbeiter in den Pausen trafen, um den neuesten Tratsch auszutauschen. Weitere wurden neben Bänken, auf den Wegeplatten, an der hohen Hecke neben den Tierställen platziert - alles Stellen, die er von seinem Bürofenster gut einsehen konnte.
Er ging zurück in sein Büro, holte aus dem Geheimschrank seine Knarre und legte sich am Fenster seines Büros auf Lauer. Es verging einige Zeit und die Wildkaninchen kamen aus ihren unterirdischen verzweigten Gängen der im Krieg zerbombten, eingeebneten Häuser. Sie machten sich über das ausgelegte Futter her. Weise schoss mit seinem Luftgewehr mehrere der Parasiten ab. Aus dem Pförtnerhäuschen kam der Wächter gestürmt und schaute entsetzt.
Weise schrie: „Geh in Deckung! Alles o.k.“
Er setzte die Jagd auf die Schmarotzer fort und beendete dann die Woche.
Auf den Gängen waren Handzettel angebracht, auf denen für eine Versammlung der gesamten Belegschaft eingeladen wurde. Es sollten die Planziele der folgenden Jahre verabschiedet werden.
5. - 80er Jahre – Ideologische Mühlsteine
„ Bevor man seine Bedenken äußert, sollte man seine Äußerungen bedenken“ Gerhard Uhlenbruck
Übers Wochenende beschäftigten Thalheim gedanklich die angekündigten Neuentwicklungen, für die es keine materielle Basis gab. Betriebsversammlungen hatten oft ihreTücken.
Die Dämmerung des warmen, sonnigen Sonntags hing bereits schwer in den Straßen. Die Zeremonie des Abends – die vielen Handgriffe waren getan. Seine Frau strich ihm über die Schulter. Vielleicht dachte sie, sie habe es lange nicht getan. Aber sie fühlte an diesem Tag: Er braucht es. Thalheim ging auf den Balkon und schaute in den Abendhimmel. Der Taghimmel war verschwunden. Er nahm das tiefe Blau während der Dämmerung und des aufsteigenden Nachthimmels wahr. Kandinsky, der expressionistische Maler des Blauen Reiters, verband das Blau mit Ruhe, Ferne, Ewigkeit, Unendlichkeit. Thalheim mochte aber auch das Blau in den Aquarellen seines verehrten Malers Querner. Er blickte gern in den grenzenlosen Himmel, er hing dann seinen träumerischen Gedanken nach, neben der Tiefe und Weite blitzten Formeln auf, Assoziationen zu seinen chemischen Versuchen kreisten im Kopf. Trotz starken Streulichts drang das irreale Funkeln des Abendsterns am westlichen Abendhimmel ins Blickfeld. Kant sah Himmel und Mensch als Einheit, als moralische Schicksalsgemeinschaft – der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
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