„Unser Robin ist als Baby in den Sirup gefallen, wie Obelix in den Zaubertrank“, sagt Schwester Rosa immer. „Deswegen hat er so viel Energie. Genug Energie für ein ganzes Leben.“
Sirup läuft und läuft und läuft, den ganzen Tag lang.
Trapp trapp trapp läuft er,
TRAPPTRAPPTRAPP, immer schneller, den Hügel hinunter, die Stiege hinauf,
BAKABAMM, knallt die Tür zu.
Das ist Sirup.
Er ist schon zwölf und er geht in die Schule und er kann noch immer keine Tür normal zumachen.
Jetzt sitzt Eilis da, in ihrem Rollstuhl und lächelt. Richtig wütend werden kann sie genau so wenig, wie sie laufen kann. Nie schreit sie oder haut auf den Tisch oder flucht.
Manchmal weint sie. Aber sie flucht nicht.
„Die Prinzessin kommt“, sagt Eilis.
Ich horche.
„Diener, mach die Tür zu!“, hallt es drinnen durch den Gang.
Natürlich gibt es keinen Diener. Das Türschließen erledigt der Wind, wie immer. Schon wieder knallt es.
Eilis kichert.
Die Haustür schwingt auf und ein neonrosa Zepter erscheint, dicht gefolgt von einer kleinen, runden Nase und einem silbernen Glitzerkrönchen. Die kleine Gestalt schreitet majestätisch die drei Stufen zu uns herunter. Der perlenbestickte Umhang weht hinter ihr her und liest den Staub von den Steinfliesen auf.
„Wie haben Prinzessin geruht?“, fragt Eilis und legt den Kopf auf die Seite.
„Wirklich sehr ausgezeichnet“, antwortet die Prinzessin würdevoll.
Ich glaube ihr aufs Wort. Das Muster des Frottee-Kopfkissens hat sich in ihr Gesicht eingraviert.
„Ich mag wieder Tiko sein. Prinzessinspielen ist langweilig“, sagt Tiko, reißt sich das Krönchen vom Kopf und hüpft die letzten zwei Stufen hinunter, direkt in meinen Schoß. Meine Knie knirschen und mir bleibt die Luft weg. Tiko sollte nicht so viel Kartoffelpüree essen.
Tiko wirft ihre kurzen, kräftigen Arme um meinen Hals, drückt ihr Stupsnäschen gegen meine Hakennase und versucht, mir tief in die Augen zu blicken. Die Augen in ihrem kleinen Gesicht stehen viel näher beisammen als meine. Tiko kann sich nicht entscheiden, wo genau sie hinsehen soll. Ihre Pupillen gehen über Kreuz. Sie drückt mir einen Kuss auf die Nasenspitze. Einen sehr feuchten Tikokuss. Ich verziehe das Gesicht. Tiko kichert vergnügt.
Plötzlich legt sie den Zeigefinger an die Lippen und wird ganz starr. Ich höre nichts. Den Wind vielleicht. Aber sonst …
„Sie sind zurück“, sagt Eilis.
„Juhu!“, schreit Tiko und springt auf. Mit einem Satz ist sie auf dem Gartenweg und saust in Richtung Tor. Im selben Augenblick wird die Haustür aufgerissen, knallt – KALAKIBAMM – gegen den Türstopper und kommt postwendend zurückgeschossen. Bevor die Tür wieder ins Schloss fällt, ist Sirup schon die Stufen hinuntergesprungen. Hastig rennt er Tiko hinterher.
Immer muss er der Erste sein, wenn jemand kommt. Immer muss er das Tor aufmachen. Er hätte besser ein Wachhund werden sollen.
Ich stütze mich mit der Hand an der Wand ab und stehe auf. Ich habe keine Eile. Es sind ja nur Gaya und Schwester Rosa, die vom Einkaufen zurückkommen.
Schwester Miki kommt aus dem Haus. Sie bindet sich gerade ihre Arbeitsschürze um.
„Wollen wir ihnen ausladen helfen?“, fragt sie munter. Ohne eine Antwort abzuwarten, löst sie die Bremsen am Rollstuhl und schiebt Eilis im Renntempo die Rampe hinunter auf den Gartenweg.
„Holterdipolter!“, ruft sie und lässt Eilis über die Steine rumpeln. Eilis kreischt.
Als ich um die Ecke biege, kommen mir Schwester Miki und Eilis schon wieder entgegen. Der Rollstuhl ist mit Kochschokolade, Rosinen, Mohn und Taschentüchern beladen und von den Griffen baumeln vier Familienpackungen Klopapier. Tiko läuft mit wichtiger Miene hinterher und sammelt auf, was während der Rumpelfahrt hinunterrutscht.
Gaya ist nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hat sie sich längst ins Mädchenzimmer verdrückt. Wundert mich nicht.
„Na, wo sind denn meine starken Burschen?“, ruft Schwester Rosa aus der Einfahrt herauf. Ich mag nicht, wenn sie so mit mir spricht. Wie mit einem kleinen Kind. Ich bin kein kleines Kind mehr. Aber sag das einmal einer Nonne.
Schwester Rosa steht unter der Heckklappe des Minibusses und dirigiert das Ausladen.
„Hier, mit besten Grüßen aus Bella Italia!“, sagt sie zu Sirup und zeigt auf eine Riesenladung Spaghetti. Sirup packt den Karton und grinst mich dabei an. Damit ich auch ja sehe, dass das ein Klacks ist für ihn. Dann rennt er davon und heult dabei wie eine Sirene.
„Und für dich die Bananen, mein Guter“, sagt Schwester Rosa und klopft mir auf die Schulter. Ich runzle die Stirn.
„Natürlich bio!“, ruft sie entrüstet, als sie meinen Blick sieht. „Nun hab dich nicht so, aufs unterste Regalbrett, Marsch Marsch!“
Ich nehme also die Bananenschachtel und mache mich auf den Weg. Sirup kommt mir schon bei den Apfelbäumen entgegengerannt. Er stürmt an mir vorbei, als gäbe es beim Auto gratis Eiscreme.
Ich schlichte die Bananen ordentlich ins Regal, damit sie nicht faulig werden. Sirup würde sie wahrscheinlich einfach hineinwerfen und wir müssten wieder zwei Wochen lang braunes Bananenmus essen. Den leeren Karton stelle ich zum Altpapiersammeln in die Abstellkammer. Ich mache alles genau richtig. Das sollte Schwester Rosa jetzt sehen. Aber sie ist noch immer draußen. Das muss wirklich ein Rieseneinkauf gewesen sein. Ich laufe noch einmal hinaus, um den Rest zu holen.
Sirup hebt gerade etwas Großes aus dem Bus. Ich kann nicht genau erkennen, was es ist, aber es muss schwer sein, so wie er dabei in die Knie geht. Damit schafft er es nie bis ins Haus. Egal, wie breit er grinst.
„Nein, Hovo, nicht!“, schreit Tiko, als ich zum Bus gehe.
Keine Ahnung, was nicht. Sirup taumelt unter seiner Last. Ich mache zwei schnelle Schritte. Da schiebt sich ein Schatten vor die Sonne.
Es ist Schwester Rosa. Sie sollte auch nicht so viel essen.
„Hovanes, bitte sei so gut und trag die Eier hinauf“, sagt sie.
Die Eier? Da bleibt mir der Mund offen. Ernsthaft! Sirup schleppt sich kaputt und ich soll eine Packung blöde Eier in die Küche tragen?
„Hovanes, bitte, stell dich nicht so an“, stöhnt Schwester Rosa. „Schwester Miki wartet schon. Sie braucht die Eier zum Kochen.“
Sie drückt mir den Karton in die Hand und macht auf den Fersen kehrt. Mit Sirups Hilfe wuchtet sie die Riesenlast aus dem Auto, gemeinsam torkeln sie in die Garage.
Ich presse die Lippen aufeinander. Immer darf Sirup alles machen. Immer werde ich behandelt wie ein Baby. – Die Eier! – Ich bin älter als Sirup. Ich kann auch schwere Sachen tragen. Mindestens so gut wie Sirup.
Und die Gießkanne soll Schwester Rosa das nächste Mal alleine schleppen. Das mit den Bandscheiben kann sie ab jetzt jemand anderem erzählen.
„Ana?“, fragt Levon schüchtern. „Hat das noch bis Montag Zeit?“ Der Praktikant legt einen Packen Papier auf den Schreibtisch der Chefredakteurin.
„Hat was Zeit?“, fragt Ana und blättert die Unterlagen blitzschnell durch.
„Bis heute sollte ja das Konzept stehen, nicht? Für die Reportage über Menschen mit Behinderung“, erinnert sie Levon. „Aber ich stecke noch immer mitten in den Recherchen. Das ist so ein umfangreiches Thema. Kann ich da bitte noch übers Wochenende dran schreiben?“
„Ist gut“, seufzt Ana. „Ich komme vor Montag sowieso nicht dazu, mir das anzusehen.“
„Danke“, sagt Levon. „Und – ach ja – für die Sitzung morgen um 11.00, soll ich da noch etwas vorbereiten?“
„Welche Sitzung?“
„Ähm – die Redaktionssitzung für die Herbstausgabe.“
„Die Redaktionssitzung“, flucht Ana. „Verdammt.“
Levon starrt Ana verblüfft an.
„Ist alles in Ordnung?“, fragt er vorsichtig.
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