Ich versuche, so dankbar auszusehen wie möglich. Ein Kuss für Schwester Miki, einer für Schwester Rosa. Aber nur in die Luft. Das muss reichen.
„Schluss?“, fragt Gaya gähnend.
„Ja. Lasst uns drinnen aufräumen und dann ab in die Heia“, nickt Schwester Rosa. Im Gänsemarsch verlassen alle den Schuppen. Ich hocke mich neben die Kiste. Die drei Mümmelmänner scheinen sich beruhigt zu haben. Einer knabbert sogar ganz lässig an einem Heuhalm. Unglaublich, wie schnell er die Lippen bewegen kann. Das sieht witzig aus. Der Kerl ist ganz weiß. Er hat rote Augen. Oder sie. Keine Ahnung. Mümmelmann Numero zwei sieht auf jeden Fall aus wie ein Mädchen. Weiß mit grauen Flecken. Wie Schminke um die Augen. Und lange Wimpern. Das dritte Kaninchen ist weiß mit hellbraunen Flecken. Es sieht ein bisschen schmutzig aus. Vielleicht wäscht es sich nicht so gerne. Wie Gaya.
Waschen sich Hasen überhaupt? Vielleicht putzen sie sich mit der Zunge, wie die Katzen. Oder gar nicht, wie Hunde. Vielleicht kratzen sie sich nur. Ich muss sie genau beobachten. Das wird mein Projekt. Meine Aufgabe, ganz allein meine.
„Hovanes?“
Die Kaninchen erschrecken und ich auch. Wir kauern alle vier regungslos am Boden. Aber es ist nur Schwester Rosa, die sich durch die Tür schiebt.
„Hovanes, komm rein“, sagt sie. „Morgen zeig ich dir alles, was du über die Hasen wissen musst.“
Na toll. So viel zu „ganz für mich allein“.
Levon klopft an, bevor er die Tür zu Anas Büro aufdrückt.
„Hast du kurz Zeit?“
„Was gibt’s denn?“
„Es ist wegen der Behinderten-Story …“, sagt Levon und lässt sich auf den freien Stuhl fallen. „Ich soll ja bis heute sagen, wie ich den Artikel anlegen will.“ Er stockt.
Ana sieht von ihrem Notizbuch auf. „Ja?“
„Ich habe mir überlegt, dass ich über Kinder mit geistiger und körperlicher Behinderung schreiben will“, sagt Levon. „Darüber, wie sie leben. Über ihren Alltag und so.“
Ana nickt. „Klingt interessant.“
„Ich weiß nur nicht, wie ich es schreiben soll“, seufzt Levon.
„Wie meinst du das?“, fragt Ana.
„Na ja – so, wie mein Artikel bis jetzt aussieht, könnte es ein Lexikon-Eintrag sein. Wegen all dieser politisch korrekten Ausdrücke. Und beim Thema bin ich mir auch noch nicht sicher. Versteh mich nicht falsch, aber … barrierefreie Bildung? Kinofilme für Gehörlose, Mode für Kleinwüchsige?“ Levon sieht Ana hilflos an. „Das interessiert doch keinen!“
„Am besten, du schreibst über Einzelschicksale“, sagt Ana. „So etwas lesen die Leute immer gern.“
„Wie“, meint Levon verwirrt. „Soll ich die einfach erfinden?“
„Natürlich nicht! Du besorgst dir die Adresse eines Behindertenheims und dann gehst du hin und schaust es dir an, interviewst die Leute dort, machst Fotos, aus. Viel mehr gibt’s da nicht zu tun.“
„Ich weiß nicht“, sagt Levon zweifelnd.
Ana sieht ihn nachdenklich an. Sie klopft mit dem Bleistift auf die Schreibtischunterlage.
„Hm, na ja, es ist deine erste große Reportage“, sagt sie nach einer Weile. Sie schaut kurz auf ihren Terminkalender. „Weißt du was? Wir tauschen. Ich übernehme das Behindertenheim und du schreibst die Story über die Flößer. Das ist ein historisches Thema, das geht fürs Erste wahrscheinlich einfacher.“
Levon nickt erleichtert. „Dazu fällt mir etwas ein“, sagt er. „Danke!“
Ana schließt kurz die Augen und nickt.
Seit einer Ewigkeit hocke ich hier am Gang, am kalten Boden, ohne Polster, ohne Stuhl. Da bewegt sich die Klinke. Ich richte mich auf, rutsche auf die Knie. Schwester Miki kommt aus dem Zimmer. Sie sieht mich nicht an. Seit dem Unfall hat sie mir noch kein einziges Mal in die Augen gesehen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden das schon sind. Vielleicht drei, vielleicht zwanzig, vielleicht hundert. Aber es tut weh. Es tut verdammt weh und es ist so ungerecht, dass es schreit in mir.
Wenn man etwas falsch gemacht hat, soll man es gleich zugeben und sich entschuldigen, sagen die Schwestern immer. Dann ist alles wieder gut.
Ich weiß aber nicht, was ich falsch gemacht habe. Ich kann mich auch nicht bei Schwester Miki entschuldigen, wenn sie nicht mit mir spricht und bei Sirup sowieso nicht, wenn sie mich nicht zu ihm lassen. Ich weiß nicht einmal, ob er sprechen kann. Ob er jemals wieder sprechen wird.
Nichts ist gut.
Nichts wird jemals wieder gut.
Schwester Miki läuft wieder an mir vorbei. Sie hat eine Schüssel mit heißem Wasser in der Hand und ein weißes Tuch über dem Arm hängen. Als die Tür aufgeht, sehe ich Schwester Rosa. Sie sitzt an Sirups Bett und hält seine Hand. Die Tür fällt zu und verschluckt sie alle, Sirup, Schwester Rosa und Schwester Miki. Sie brauchen mich nicht. Niemand braucht mich.
Im Geräteschuppen ist es unerträglich heiß. Die Kaninchen sitzen bewegungslos in ihrer Kiste und starren vor sich hin. Ich knie mich auf den Boden und spähe durch die Holzlatten, um besser sehen zu können. Das graugetupfte Kaninchenmädchen liegt lang ausgestreckt auf dem Boden. Nur die kleine Nase bewegt sich schnell auf und ab. Das soll nicht so sein. Etwas ist falsch.
Die Kiste ist falsch. Sie ist für Kartoffeln, nicht für Kaninchen. „Zuerst müssen wir darüber nachdenken, wo sie wohnen sollen“, sagt Schwester Rosa und geht neben mir in die Hocke. „Die Holzkiste ist zu klein für alle drei.“
Es stört mich, dass Schwester Rosa da ist. Das sind meine Kaninchen. Aber es ist immer das Gleiche: Zuerst schenkt sie dir was und dann will sie darüber bestimmen. Sie kann ja schon über das ganze Haus bestimmen, und Schwester Miki muss auch immer machen, was Schwester Rosa sagt, weil Schwester Rosa die Mutter Oberin ist. Da muss sie nicht auch noch die Mutter Oberin im Kaninchenstall sein.
„Du musst gut auf die Hasen Acht geben und den Stall sauber halten, Hovanes“, sagt Schwester Rosa. „Hasen werden leicht krank, wenn sie im Schmutz schlafen. Dann sterben sie.“
Das sind Kaninchen, keine Hasen. Sie weiß nicht einmal, wie die Tiere richtig heißen und dann will sie bestimmen, was ich mit ihnen machen soll. Ich bin kein Kind mehr. Und ich bin nicht blöd.
Ich muss einen Stall bauen. Am besten einen auf Stelzen. Dann kann der Dreck durch das Gitter hinunterfallen und ich brauche nur den Boden zu kehren.
„Ein Mal am Tag musst du sie füttern, Hovanes“, fährt Schwester Rosa fort und steht ächzend auf. „Ich habe Hasenfutter gekauft, das steht dort hinten in der Ecke. Dort liegt auch ein Messbecher. Ein Becher pro Hase reicht. Sonst überfressen sie sich.“
Hasenfutter. Das Zeug sieht aus wie Müsli. Das kann ihnen nicht schmecken. Das ist doch viel zu trocken. Kaninchen brauchen sicher frisches Gemüse. Karotten gibt es genug im Garten. Aber Kaninchen fressen ja nicht nur Karotten. Das glauben nur kleine Kinder und Leute, denen Kaninchen egal sind.
„Hovanes, hörst du mir überhaupt zu?“ Schwester Rosa stemmt die Hände in die Seiten.
Ja. Leider. Du bist ja nicht zu überhören. Aber Schwester Rosa muss man ansehen, wenn sie mit einem spricht. Darauf steht sie.
Ich schaue ihr brav ins Gesicht und nicke.
„Na gut. Jetzt lasse ich dich erst einmal allein mit deinen Schätzen, Hovanes“, sagt Schwester Rosa zufrieden. „Wenn du etwas brauchst, kannst du jederzeit zu mir kommen.“ Sie streicht mir über den Kopf und geht. Wahrscheinlich ins Haus, um Gaya zu quälen. Oder zu ihren Blumen.
Ich muss Gras mähen für die Kaninchen. Und Heu machen. Vor allem für den Winter.
Ich glaube, das wird ganz schön viel Arbeit.
Wenn es nur nicht so heiß wäre … Es ist wie verhext! Die Nägel zu lang, die Bretter zu kurz, alles wird schief. Jetzt habe ich den ganzen Tag geschuftet und der blöde Stall sieht aus wie ein Vogelhaus nach dem Sturm. Ich hätte nie gedacht, dass das so lange dauert.
Читать дальше