Barbara Lutz - Russische Freunde

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Der russische Student Juri Salnikow ist verschwunden, in seine Wohnung in Bern-Bümpliz wurde eingebrochen, obwohl dort offensichtlich nichts zu holen ist. Dann erhält seine arbeitslose Nachbarin Ilka Kovacs eine Postkarte aus Leukerbad: Juri Salnikow bittet um Hilfe. Als Ilka Kovacs in Leukerbad ankommt, liegt Juri bereits tot in der Dampfgrotte eines Kurbads. Niemand weiss, wie er nachts da hineinkam. Sie mochte Juri und hat Zeit, also beginnt sie auf eigene Faust zu ermitteln. Sie findet innert kürzester Zeit herrenloses Bargeld, einen windigen Leuker Notar und Treuhänder, einen kunstliebenden reichen Russen mit vielfältigem Umfeld, seltsame Immobiliengeschäfte, die sie zu auskunftsscheuen Erbschaftsbeamten führen, und einen rätselhaften Datenstick. Bevor sie auch nur das Geringste versteht, gerät sie selber in Gefahr …

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BARBARA LUTZ

RUSSISCHE

FREUNDE

Roman

картинка 1

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Nein. Nicht das. Nicht jetzt noch das.

Ich hatte den Hausschlüssel verloren. Es war kurz nach fünf Uhr in der Früh, die Dämmerung noch weit. Ich stand vor dem Wohnblock und starrte zu meinen Fenstern hoch. Nach elf Stunden Arbeit im Obdachlosenheim, nach Stunden, in denen ich im stickigen Büro angespannt betrunkenem Lallen zugehört und auf Schnarchen aus dem Schlafsaal gehofft hatte. Ich fühlte mich so dreckig, als hätte ich die Nacht unter einer Brücke zugebracht. Krätze, Flöhe, Läuse, Alkoholfahnen, alle Trostlosigkeit klebte an mir.

Ich ging um das Haus herum nach hinten, in unseren verwahrlosten, überwachsenen Garten. Ich wollte in meine Wohnung. Jetzt. Sofort. Der Fassade entlang sah ich nach oben zu meinem Balkon im ersten Stock.

Ich schob den Gartentisch an die Hauswand und schichtete eine Holzkiste und zwei morsche Harasse übereinander. Die Balkontür würde dran glauben müssen, aber sie schloss schon lange schlecht, und es war mir egal.

Der erste Versuch scheiterte. Die Regenrinne war stabil, doch fehlte mir die Kraft, um mich bis zum Balkon hochzuziehen. Der Kletterturm war nicht hoch genug. In einem Nachbargarten fand ich einen weissen Plastiksessel und einen Kübel. Das war frech, ich kannte diese Leute nicht, wusste bloss, dass sie ihren Gartensitzplatz täglich wischten und die dürren Blätter aus den Geranien zupften. Ich blieb stehen und horchte in die Stille. Noch schien alles zu schlafen, nur vorne auf der Hauptstrasse fuhr ein Auto.

Der Stuhl erwies sich als zu sperrig, aber den Kübel nahm ich mit, als ich wieder auf den Tisch kletterte. Vorsichtig balancierend, schaffte ich es auf die oberste Kiste und stieg auf den Kübel, der sofort unter mir wegzurutschen begann. Jetzt aber zog ich mich verbissen an der Rinne hoch. Ich schrammte mir die Fingerknöchel blutig. Ich würde es schaffen.

Plötzlich war alles taghell. Ich wurde von gleissenden Scheinwerfern angestrahlt, während ich vor Anstrengung zitternd an der Wand klebte. Wie die dicken Kinder im Turnunterricht, die an der Stange auf halber Höhe stecken bleiben. Ich schwitzte vor Anstrengung und es dauerte, bis ich begriff. Unter mir im Garten standen Polizisten. Ich habe doch bloss einen Plastikkübel genommen, ging mir als erstes durch den Kopf.

Die Polizisten schauten mir unbeteiligt zu, wie ich der Rinne entlang nach unten rutschte. Der Turm fiel in sich zusammen und ich musste mir vom Tisch helfen lassen. Mit herablassender Gleichgültigkeit, vorbei an uniformierten Oberschenkeln, wurde ich vom Tisch gehievt. Die Polizisten bugsierten mich in einen Streifenwagen und fuhren mit mir davon.

Ich fand mich alleine in einem kleinen, fast unmöblierten Büro wieder. Sie hatten mich ins Polizeigebäude am Waisenhausplatz gebracht. Ein Schreibtisch, drei Stühle. Keine Bilder, kein Kalender, keine Uhr, ich sass und wartete. Vielleicht hätte ich einfach aufstehen und davonlaufen können. Gut möglich, dass da keiner war, der es bemerkt hätte. Ich blieb sitzen. Während mindestens zwei Stunden wartete ich. Eine winzig kleine Spinne zog sich an ihrem Faden zum Schreibtisch hinauf und liess sich, oben angekommen, in die Tiefe fallen. Oft, immer wieder. Ich hatte Durst, meine Blase war voll, ich war müde.

Auch Polizisten scheinen nicht gerne vor acht Uhr morgens zu arbeiten. Irgendwann stieg der allgemeine Geräuschpegel im Haus, später betrat ein Mann in Zivil das Zimmer. Mit einem Gruss und kurzem Blick zu mir hin setzte er sich und startete den Computer. Während dieser langsam hochfuhr, sah er zum Fenster hinaus. Dann begann er etwas einzutippen.

«Wie ist Ihr Name?», richtete er schliesslich das Wort an mich und sah mich dabei zum ersten Mal an.

«Ilka Kovacs. Ich wohne in dem Haus, an dem ich hochgeklettert bin. Ich habe meinen Schlüssel verloren und wollte in meine eigene Wohnung.»

Ich sagte das sehr sachlich und souverän.

«Ich warte seit ungefähr zwei Stunden hier», schob ich nach, ohne es zu wollen. Ich gab mir alle Mühe, meine Wut zurückzuhalten. Ich war übernächtigt und entnervt und sass einem frisch rasierten Beamten gegenüber. Es hatte keinen Sinn.

«Ich muss Ihre Personalien aufnehmen. Bitte beantworten Sie meine Fragen. Ihr voller Name ist also Ilka Kovacs? Geburtsdatum?»

Nach dem Geburtsdatum kam die Frage nach Geburtsort, Familienstand, Staatsbürgerschaft, Wohnadresse. Es dauerte.

Sicherlich gab es schriftlich festgelegte Verfahrensregeln, Richtlinien für den Ablauf einer Befragung. Ganz bestimmt hielt er sich daran. Ob dort auch stand, dass kein weiteres Wort zulässig war? Eine kurze Erklärung, weshalb er mich befragte? Wie lange es dauern würde? War irgendwann vorgesehen, sich zu erkundigen, ob die Angeklagte aufs Klo musste? Ob sie Durst hatte? Ich hätte gerne meinen Anwalt erwähnt, aber ich hatte keinen, und der Herr hinter dem Schreibtisch wusste das.

Ich sagte nichts, beantwortete knapp seine Fragen und schaute, synchron zu seinen Blicken, ebenfalls zum Fenster hinaus. Ein müder Versuch, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Er tippte die Angaben ein, surfte herum, hatte sichtlich Zugang zu irgendwelchen Daten über mich. Dann druckte er etwas aus und verschwand.

Wenig später kam der gleiche Mann wieder herein, nun mit einem Dossier in der Hand.

«Kennen Sie den Mieter in der Wohnung oberhalb Ihrer eigenen, Juri Salnikow?», fragte er mich und schaute mir unerwartet direkt in die Augen. Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet.

«Ja», antwortete ich und sah wieder zum Fenster hinaus. Es schien ihn nicht zu beirren.

«Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?»

«Das weiss ich nicht mehr.»

«Wann waren Sie zum letzten Mal in seiner Wohnung?»

«Wieso glauben Sie, dass ich überhaupt schon einmal in seiner Wohnung war?»

«Waren Sie schon einmal in seiner Wohnung?»

Ich gab auf. Er sollte mir doch einfach erklären, um was es eigentlich ging.

«Weshalb fragen Sie mich das alles? Ich habe versucht, zu meinem eigenen Balkon hochzuklettern. Falls ich irgendwelche Nachbarn gestört habe, werde ich mich entschuldigen. Sie haben doch inzwischen sicher schon herausgefunden, dass ich dort wohne. Weshalb also werde ich befragt?» Es klang kläglicher, als ich wollte.

Aber überraschenderweise ging er auf mich ein.

«In die Wohnung von Juri Salnikow ist eingebrochen worden. Eine Nachbarin hat das bemerkt und uns gerufen. Gleichzeitig sind Sie die Fassade hochgeklettert. Sie verstehen sicher, dass wir abklären müssen, ob es einen Zusammenhang gibt.»

Ich nahm den Beamten zum ersten Mal genauer wahr. Sein Blick auf mich war aufmerksam und angenehm nüchtern. Er war um die vierzig, etwas untersetzt, mit einem weichen Gesicht und braunen, leicht gelockten Haaren. Er wirkte nicht unklug und, genauer besehen, eigentlich sogar sympathisch. Ich war schon nicht mehr sauer, nur noch müde. Ich befürchtete den Beginn eines Stockholm-Syndroms.

«Waren Sie in seiner Wohnung?» Während er die Frage wiederholte, stand er kurz auf und beugte sich über den Drucker, mit gezielten und sorgfältigen Bewegungen. Ein ruhiger, besonnener Mann, ergänzte ich das «sympathisch». Seine weichen Bewegungen passten nicht zu meiner Vorstellung von einem Polizisten.

«Ich war ab und zu da. Wenn Juri Salnikow weg ist, schaue ich nach den Pflanzen. Ich darf sein Klavier benutzen. Ich weiss, wo ein Ersatzschlüssel zur Wohnung liegt. Ich müsste also gar nicht einbrechen. Und wenn schon eingebrochen worden ist, weshalb würde ich dann anschliessend noch einmal die Fassade hochklettern?»

Seine Kopfbewegung schien fast ein Nicken zu sein. Vielleicht war ich doch nicht die Hauptverdächtigte. Vielleicht würde er mich bald einmal auf die Toilette gehen lassen. Vielleicht bekam ich sogar einen Kaffee. Ich war bereit zur Kollaboration.

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