«Wo war denn Juri, als eingebrochen wurde?», erkundigte ich mich. Juri war nachts eigentlich immer zu Hause, er kam ab und zu spät heim, schlief aber selten auswärts. Der Beamte erklärte mir, der Einbruch sei um drei Uhr in der Früh geschehen. Eine Nachbarin wurde von ungewohnten Geräuschen wach und hatte im Treppenhaus nachgesehen. Sie bemerkte Juris aufgebrochene Wohnungstür und rief die Polizei, die den Einbruch feststellte. Die Täter waren bereits verschwunden, aber auch der Mieter war nicht da. Bisher hatte die Polizei Juri nicht erreicht. Als ich um fünf Uhr an der Fassade hochkletterte, fuhr die Polizeistreife zufällig zu einem zweiten Kontrollgang am Haus vorbei. Meine Wohnung liegt unter Juris Wohnung, ein Stockwerk tiefer.
Ein Einbruch in unser Haus war seltsam. Ich hatte noch nie daran gedacht, nicht in dem Quartier, nicht in dem Haus. Bei uns gibt es nichts zu holen, weder bei mir noch bei meinen Nachbarn, von denen viele von der Sozialhilfe leben. Allerdings war es einfach, über die Fassade einzusteigen. Falls man genügend Zeit dazu hatte.
Ich wurde noch weiter befragt und ich bekam einen Kaffee im Styroporbecher. Der Befrager hatte sich schliesslich vorgestellt, er hiess Stefan Ricklin und arbeitete beim Einbruch. Gegen Mittag fuhren mich zwei uniformierte Polizisten nach Hause. Sie fragten nach dem Ersatzschlüssel zu Juris Wohnung, der wie immer verstaubt auf dem kleinen Mauervorsprung über dem Gangfenster lag. Die Beamten versuchten, Juris Wohnung abzuschliessen, was ihnen nicht gelang. Die Tür war aufgebrochen worden, das Schloss kaputt, und schon vom Gang aus sah ich, dass in der Wohnung ein Chaos herrschte. Im Flur lagen CDS, Bücher und Papiere.
Ich dachte, die Polizisten würden die Wohnung nun versiegeln, aber sie versuchten bloss, sie abzuschliessen. Weil ich wollte, dass sie bald gingen, bot ich ihnen an, mich darum zu kümmern. Sie waren einverstanden und folgten mir hinunter zu meiner eigenen Wohnung, als ob sie überprüfen wollten, dass ich tatsächlich dort wohnte. Von der Polizeiwache aus hatte ich einen Schlüsselservice bestellt, der aber noch nicht eingetroffen war. Wir warteten.
Vielleicht wollte ich beweisen, dass ich mich hier auskannte. Jedenfalls gab es keinen Grund, die Tür zu meiner kleinen Rumpelkammer zu öffnen, während wir warteten. Der Abstellraum liegt ausserhalb meiner Wohnung, ein halbhoher, schräger Verschlag unter dem Treppenaufgang.
Direkt hinter der Tür, noch vor meinem eigenen Plunder, stand ein grosser brauner Lederkoffer, den ich noch nie gesehen hatte. Mir gehörte dieser Koffer nicht. Instinktiv griff ich nach der Etikette, die am Handgriff baumelte. In grossen und deutlichen Buchstaben waren darauf Juri Salnikows Name und Adresse zu lesen. Meine Verblüffung ging unter in der Ankunft des Schlüsselservices, von weitem hörbar keuchte der Mann die Treppe hoch. Trotz Anwesenheit von zwei Polizisten musste ich mich ausweisen, aber eine Minute später war meine Wohnung offen.
2
Ich wachte gegen Abend wieder auf und dachte an das, was am Morgen geschehen war. Ich musste einen weissen Plastikstuhl und einen Eimer zurückbringen, und vielleicht wäre es gut, mit ein paar Nachbarn zu sprechen und zu erklären, was ich letzte Nacht an der Fassade gewollt hatte. Ich wohne seit bald zwanzig Jahren in diesem Block. Manche Nachbarn mögen mich für eine Eigenbrötlerin halten, vielleicht auch für eine gescheiterte Existenz. Beides wäre hier in der Gegend nichts Aussergewöhnliches. Ich bin nicht sehr kontaktfreudig, aber ich benehme mich anständig und bin freundlich.
Ich mag das Quartier, in dem ich wohne, Bümpliz, eine Mischung aus Hochhäusern und Industrie, aus ein paar übrig gebliebenen, verlotterten Holzhäusern und in die Jahre gekommenen Mietskasernen. Unser dreistöckiges Haus gehört zu den letzteren, es stammt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Besitzer haben seit damals nicht viel investiert, mal abgesehen von ein paar Boilern. Vom Küchenfenster aus geht der Blick auf eine Tankstelle und auf mehrstöckige Wohnblöcke. Schön ist der verwilderte Garten hinter dem Haus, der bis zum Turnplatz einer Schule reicht. Die Wohnung ist billig, was sich gerade jetzt als ein Vorteil erwies. Ich hatte seit mehreren Monaten keine richtige Arbeit mehr.
Der Abend dämmerte bereits, als ich frühstückte. Da ich wieder einmal kein Brot hatte, musste ich mich mit Haferflocken begnügen. Sobald ich richtig wach war, wollte ich bei Juri vorbeischauen und von ihm erfahren, was eigentlich los gewesen war. Ich nahm an, dass er inzwischen zu Hause war, auch wenn ich von oben keine Geräusche vernahm. Normalerweise höre ich seine Schritte.
Juri ist Russe und wohnt seit eineinhalb Jahren über mir. Es ist nicht so, dass wir uns wirklich gut kennen, aber seine Nachbarschaft tut mir gut. Juri studiert im dritten Semester Wirtschaft, hat aber, soviel ich weiss, in seiner Heimat bereits einen Abschluss gemacht. Jedenfalls ist er schon einiges über dreissig. Juri lebt zurückgezogen, bis auf seltene Besuche von ein paar Studienkollegen oder anderen Exilrussen. Abends ist er meist zu Hause. Wenn wir uns im Treppenhaus begegnen, laden wir uns manchmal auf eine Tasse Tee ein.
Ich mag Juri. Ich glaube, er erinnert mich an Freddie, einen Buben aus meiner Kindheit. Freddie wohnte im gleichen Haus und er war mein Freund, dass er drei Jahre jünger war, spielte keine Rolle. Stundenlang lagen wir auf der Terrasse über der Bäckerei und betrachteten die Welt. Die Schnecken auf dem Weg zum Basilikum, die Käfer und Ameisen in der Regenrinne, die dicke Nachbarin beim Wäscheaufhängen, die anderen Kinder bei ihren Streifzügen durchs Quartier. Freddie durfte bei der Quartierbande nicht mitmachen, weil er zu klein war, und mich wollten sie nicht, weil ich ein Mädchen war. Freddie war wie ein kleiner Bruder. Juri gegenüber habe ich ähnliche Gefühle, er ist jünger als ich, aber er ist ein Verbündeter, dem ich ohne viele Worte begegne. Weshalb ich wenig über ihn weiss.
Was uns auch verbindet, ist das Klavier. Als Juri hier einzog und es die Treppe hochgetragen wurde, hatte ich seit Jahren keine Tasten mehr berührt. Dann aber liess Juri mich sein Klavier benutzen und eigentlich haben wir uns so kennengelernt. Auch das ist wie in meiner Kindheit. Damals ging ich zu einer Nachbarin, um zu spielen, zu einer älteren Dame, die mich dann auch unterrichtete. Da die Stunden nicht offiziell waren und der Unterricht meine Eltern nichts kostete, erwartete niemand, dass ich übte. Frau Rottuner brachte mich trotzdem dazu, mich mit Fingerübungen abzugeben, und ich wurde überraschend gut. Als ich irgendwann, ich war vielleicht sechzehn oder siebzehn, mit dem Improvisieren begann, war sie zuerst entsetzt. Dann aber überwand sie sich und besorgte mir Noten und Bücher über Jazz und Rock. In meiner Jugend verbrachte ich Stunden in der Nachbarwohnung am Klavier, und später gab es sogar eine Zeit, wo ich mit einer Band unterwegs war.
Juri selbst spielt ausgezeichnet Klavier. Er hat mir erzählt, er habe mit vier Jahren an der öffentlichen Musikschule von Tscherepovez begonnen, von dort stammt er. Und Juri ist ausgesprochen lärmtolerant. Selbst wenn ich stundenlang die gleichen Dinge übe, sitzt er seelenruhig mit seinen Arbeiten für die Uni im Nebenzimmer. Er muss in akustisch schlecht isolierten Plattenbauten aufgewachsen sein. Mein Geklimper stört ihn nicht, das hat er schon oft gesagt.
Ich rief meine Mutter an, in der Hoffnung, dass ich ihr einen Schlüssel überlassen hatte. Das Gespräch wurde langfädig, bis ich schliesslich die Frage nach dem Schlüssel anbringen konnte. Sie hatte einen, und wir vereinbarten, dass ich ihn am nächsten Tag holen kam.
Als ich auflegte, merkte ich, wie kalt mir war. Jetzt im September war es abends schon recht kühl. Ich sass neben dem Telefon auf dem Boden, durch die undichte Balkontür zog eisige Luft herein. Bald schon musste ich Öl beschaffen, ich heize mit einem Ölofen aus den Fünfzigerjahren, den man morgens mit einem Kanister auffüllt. Die Wohnung würde wieder den ganzen Winter über nach Öl stinken.
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