Die letzten Meter müssen sie zu Fuss gehen. Der breite Weg endet vor einem abschüssigen Graben, den man auf einem schmalen Pfad durchquert. Direkt dahinter befindet sich das Haus. Die Tür ist zur Hälfte geöffnet, als sie sich über den Vorplatz nähern.
Schlatter Res erwartet sie in der Küche, stehend. Zögernd treten Wysslers ein. Schwer zu sagen, ob der säuerliche Geruch vom alten Mann oder von der Küche ausgeht. Es riecht nach abgestandener Fleischbeize und ranziger Milch. Die kleinen Kinder verstecken sich hinter Verenas Röcken, und Annelies bleibt in der Nähe der Tür. Verena hat kaum Erinnerungen, aber der Vetter ist alt geworden. Dabei ist er nur um wenige Jahre älter als sie selbst. Er mag auf die fünfzig zugehen, ist mager und bleich und scheint vor Erregung leise zu zittern. Dem finsteren Blick, mit dem er sie aus seinem aufgebracht und wirr wirkenden Gesicht anstarrt, kann sie nicht standhalten. Sie tritt zur Seite und ist froh, als Schlatter und ihr Mann die Küche verlassen, um nach den Pferden zu sehen und den Wagen abzuladen. Draussen herrscht Res ihren Mann an, der etwas Begütigendes erwidert. Nun ist sie froh um den nachgiebigen Charakter ihres Mannes, der sich lieber unterzieht, als Streit zu riskieren.
Verena sieht sich um. Es stinkt. Sie geht durch die Küche, an Schlatters Stubentür vorbei. Die Küche ist ekelhaft dreckig. Kessel und Pfannen, Herd, Tisch und Wände sind mit klebrigem Schmutz und Russ überzogen. In einer verbeulten Pfanne, halb voll mit Mus gefüllt, tummeln sich die Fliegen. Mit einer matten Armbewegung scheucht Verena sie fort. Fliegen hat es überall, aber jetzt im Mai schon so viele, der Herd ist übersät mit toten Insekten. Langsam betritt sie die Stube, wo Staub liegt. Wenigstens ist der Raum gross, etwas Sonne scheint herein und beleuchtet ein Quadrat auf dem Boden. Verena setzt sich auf den kalten Trittofen. Annelies kommt, die zwei kleinen Kinder vor sich hertreibend, herein.
«Sie haben vom Mus genommen», sagt Annelies.
Verena zuckt mit den Schultern. «Sieht man’s?»
Annelies schüttelt den Kopf. «Man muss die Küche putzen.»
Verena reagiert nicht, sondern schaut zu den beiden Kindern hinüber, die schüchtern bei der Tür stehen geblieben sind. Sie geht an den Kindern vorbei hinaus, um den Männern beim Abladen des Hausrats zu helfen. Je eher man den Kutscher entlässt, umso weniger muss man ihm geben. Annelies nimmt einen Reisbesen und macht sich daran, zuerst ihre neue Stube und dann die Küche zu fegen.
Danach lädt Schlatter die Neuangekommenen in seine Stube ein. Er wirkt besänftigt, auch wenn er sie nicht willkommen heisst, jedenfalls nicht mit Worten.
Befangen und steif sitzen Wysslers in seiner engen Stube um den Tisch. Das mittlere Kind drängt sich auf der Eckbank gegen die Mutter, und Annelies hält die Jüngste auf dem Schoss. Die Kleinen sind übermüdet von der langen Reise.
Bisher hat Schlatter nur mit Jakob gesprochen, ganz so, als ob die Frau und die Kinder nicht da wären oder als ob er mit deren Ankunft nicht gerechnet hätte. Verena ist deshalb überrascht, als Schlatter die erste Frage an das Mädchen, an die Annelies, richtet.
«Ihr werdet wohl im Gaden schlafen?», fragt Schlatter die Zehnjährige mit Blick auf das müde Kind auf deren Schoss. Annelies wagt nicht zu antworten, und auch die anderen Kinder sehen ihn nur lange und schüchtern an.
«Wir haben bloss ein Bett, das für die Stube. Der Schwager wird uns später eines überlassen, er will’s dann bringen», antwortet Wyssler für das Mädchen. Jakob weiss, dass im gemieteten Gaden ein Bett steht, das dem Schlatter gehört, wagt aber nicht, geradeheraus darum zu bitten.
«Es hat im Gaden ein Bett. Ihr könnt es brauchen, für diese Nacht», sagt Schlatter.
Annelies nickt, erhebt sich mit den beiden Kleinen und verschwindet, um die Kinder schlafen zu legen. Verena und Jakob sehen sich aus den Augenwinkeln an. So ist denn das gelöst, und Zudecken für die Kinder werden sich finden. Den ganzen Winter über mussten sie mit nur einem Bett ausgekommen. Es wird ihnen gut gehen hier.
Verena hätte einen Schluck Milch vertragen oder auch Schotte oder gar ein Glas Gebranntes, aber Res bietet ihnen nichts an. Stattdessen spricht er von ihren Effekten und dass er davon eine Liste erstellen wolle. Offenkundig haben die beiden Männer vorhin, als sie draussen beim Wagen waren, etwas besprochen wegen der Schulden, die sie beim Schlatter haben. Dann kommt Schlatter aufs Melken zu reden. Wyssler Verena soll das übernehmen, für zwei Mass Milch die Woche.
Verena nickt. Heute Abend schon will Res sie einweisen. Mehr wird nicht gesagt. Steif sitzen Wysslers am Tisch, und als das Schweigen fortdauert, erheben und bedanken sie sich und gehen hinüber in ihre eigene Stube.
So ist die erste Begegnung mit dem einsamen Sonderling recht günstig vonstattengegangen! Nur sei hier angemerkt, was namentlich auch Richter Ingold schon bald zu Ohren kam: Es führte der Schlatter Res wirklich eine höchst unreinliche und unordentliche Knabenwirtschaft! Dem Haushalt fehlte die Magd, die Wirtschaft lag im Argen. Zwar zahlte Res die Zinsen akkurat, indes liess er das Heim verkommen.
Kann man, die Frage sei gestattet, an einem solchen Orte beieinander friedvoll hausen ohne Zwist?
Es wird wenig gesagt, während Wyssler den Hausrat in ihre Wohnung trägt und Annelies und Verena die Küche putzen. Später hilft Verena Res im Stall und lässt sich erklären, wie sie fortan das Melken zu besorgen hat. Schlatter steht hinter ihr und beobachtet sie, während sie die Milch aus den Zitzen zieht und in den Kübel zwischen ihren Knien schäumen lässt.
Alles in allem, auch wenn der Schlatter nicht gerade freundlich war, so scheint er doch anständig, denkt Verena, als sie sich schliesslich abends in ihre neue Stube zurückzieht. Zu Annelies, die eifrig Wasser in die Küche geschleppt und geputzt hat, benahm er sich beinahe nett. Die Annelies hat ihre Scheu vor dem alten Mann am schnellsten verloren, die beiden scheinen sich gewogen. Nur als sie sich daranmachte, Holz in die Küche zu bringen, hat Schlatter sie unerwartet grob angeherrscht, er wolle das selber besorgen. Niemand hat begriffen warum, aber Annelies liess sich von seiner heftigen Art nicht beeindrucken.
Mit Erleichterung schlüpft Verena unter die Laken zu ihrem Mann, hungrig zwar, aber voller Zuversicht. Umso mehr, als sie seit ein paar Tagen weiss, dass sie in Hoffnung ist. Mit einundvierzig muss es das Letzte sein, der Wyssler soll sie fortan in Ruhe lassen. Gottlob kann sie dem Kind, das unterwegs ist, nun ein Heim bieten. Die Wiege wird in der Stube stehen, wo die Eltern schlafen. Die anderen Kinder können sich das Bett im Gaden teilen. Mit der Milch von Schlatters Kühen, der Ernte aus der Pflanzung und den vielen Äpfeln werden sie gut über die Runden kommen. Wyssler wird Arbeit finden, und was er dann noch verdient, kann man zur Seite legen für nötige Anschaffungen. Warme Decken für die Kinder, bevor der nächste Winter kommt, und bessere Kleider.
Der erste Morgen auf dem Schafberg beginnt bös. Schwaches Tageslicht dringt durch die Fenster in die Stube, es mag fünf Uhr in der Früh sein, als Verena erwacht. Schlatter geht in Holzböden in seiner Stube umher. Er murmelt leise vor sich hin. Manchmal wird er etwas lauter, und ab und zu klingt es nach Gesang. Noch ohne richtig wach zu sein, weiss Verena, dass es ein Fehler war, hierherzukommen. Alle haben sie vor Res gewarnt. Was für ein unheimlicher Mann, wenn er nur den Kindern nichts antut. Sie hat den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als es im Gaden über ihr rumpelt und die Jüngste durch das Bodenloch überm Ofen gestrauchelt kommt.
Das erst zweijährige Kind ist mit Hunger aufgewacht und will durch das Loch zu den Eltern in die Stube hinunterklettern. Dabei rutscht es aus, und Verena sieht zu, wie das Mädchen auf den Ofen fällt und von dort aus auf den Stubenboden. Augenblicklich ist sie auf den Beinen. Das Kind schreit, es blutet. Verena packt es und hastet in die Küche, das Kind am Arm wimmert, aber Verena findet sich in der finsteren Küche nicht zurecht. Alles, was sie angreift, fühlt sich klebrig an, vielleicht wegen des Bluts der Kleinen. Da öffnet sich Schlatters Tür. Er hat in seiner Stube Licht.
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