Ich trank die Ziegenmilch mit Ovomaltine. Meine Mutter hatte mir eine Büchse in den Rucksack gepackt. Der Schokoladengeschmack verband mich mit dem Frühstück zuhause und weckte je nach Tagesform warme, frohe Gefühle oder Heimweh. Walti rührte einen Teelöffel Nescafé in die Milch und schlürfte die Brühe genussvoll. Ausser den schmatzenden Essgeräuschen war nichts zu hören. Nur aus der Küche tönte es ähnlich. Bärri oder Bimi oder wie auch immer der Hund hiess, der uns Gesellschaft und gute Dienste beim Vieheintreiben leistete, schlürfte seine Milch und seine Brocken aus einem Blechnapf.
Häge mussten geflickt oder neu erstellt werden, Steine zu grossen Haufen oder langen Mauern zusammengetragen werden. Ich fragte mich, woher diese Steine immer wieder kamen. Irgendwann mussten doch alle Alpweiden von den Steinen befreit sein. Mir schien diese Arbeit ein Sisyphusprozess. Am liebsten war mir das Heuen an den steilen Hängen. Wegen des kargen, harten Grases, das in diesen ausgesetzten Höhen wuchs, oder vielleicht auch wegen der Verwegenheit der Älpler, hiess diese Tätigkeit «Wildiheuen».
Walti und ich stiegen mit Sense, Gabel, Rechen und ein paar «Burdi»-Netzen einem schmalen Bergweg folgend gegen den Schwalmis hinauf. Kurz bevor wir den Bergrücken erreicht hatten, legten wir unsere Gerätschaften und die Rucksäcke, die unser Mittagessen enthielten, an einem sicheren Ort ab. Der Hang war so steil, dass jeder unachtsam hingeworfene Gegenstand hinunterrollen konnte und über die darunter liegende Felswand für immer in der Tiefe verschwunden wäre.
Auch hier hatten wir eine klare Rollenteilung. Walti schnitt mit der Sense das widerspenstige Gras. Ich ging zu dem Platz, an dem er gestern oder vor zwei Tagen gemäht hatte. Mit der Gabel wendete und lockerte ich das trocknende Gras. Ich fuhr mit der Gabel über die Grasnarbe und stiess das halbdürre Gras zu einem Haufen zusammen, den ich mit Schwung in die Luft warf, sodass die Grashalme aufgelockert auf den Boden zurückfielen. Dieser Arbeitsgang hiess «Worben». Dort, wo das Heu schon trocken genug war, rechte ich es zu kleinen Wellen, sogenannten Mahden zusammen. Wenn Walti ein Stück gemäht hatte, holte er die Gabel und verteilte das Gras locker über die gemähte Fläche, sodass die Halme an der Sonne trocknen konnten. Dann legte er eines der mitgebrachten Netze am Hang aus. Er musste es am Boden befestigen, damit es nicht wegrutschte, wenn es mit Heu gefüllt wurde. Er begann, die trockenen Heumahden mit der Gabel zusammenzustossen, und trug das Bündel Heu, das er an der Gabel aufgespiesst hatte, zu dem ausgelegten Netz. Langsam wuchs ein grosser Heuhaufen. Ich war dafür zuständig, dass das Heu im Netz blieb und nicht den Hang hinunterkollerte. Ich stand unterhalb des Netzes und hob den unteren Rand so hoch in die Luft, wie ich konnte. Das war auf die Dauer recht anstrengend, denn der Druck des wachsenden Heuballens, der Burdi, wuchs. Es hing auch von mir ab, ob wir eine grosse oder nur eine mittlere Burdi ins Netz brachten. Wenn Walti sah, dass ich dem Druck nicht mehr standhalten konnte, fasste er das Netz am obern Rand und zog es um die ganze Heuladung zusammen. Während eines Tages schafften wir vier oder fünf dieser Ballen, und dazu war wieder genügend Gras gemäht und gekehrt für die nächsten Tage.
Wenn die Sonne ihren Höchststand erreicht hatte, setzten wir uns ins Gras, packten unsere Rucksäcke aus und assen unser Mittagessen. Meistens waren das eine getrocknete Wurst, ein Landjäger, Brot und ein paar gedörrte Birnen. Zur Abwechslung gab es etwas aus der Büchse, Sardinen im Öl oder in einer Tomatensauce, Corned Beef oder Fleischkäse. Wahrscheinlich war ich immer so hungrig, dass mir alles schmeckte. Wir sassen am Bord, kauten das einfache Mahl, tranken Most oder Sirupwasser und blickten auf unsere Alp hinunter, auf Beckenried, den Vierwaldstättersee und die Rigi. Ich fühlte mich erwachsen und gleichwertig.
Einmal stiess ich allerdings an meine Grenzen. Wir waren in einem besonders steilen Stück tätig, als mich die Angst packte. Meine Knie zitterten, der Hang begann sich zu drehen, drohend tat sich der Abgrund vor mir auf. Ich legte den Rechen nieder und ging langsam in die Hocke. Ich versuchte bergauf zu schauen, aber ich konnte mich vor Angst nicht mehr drehen. Jede Bewegung schien mir riskant. Ich könnte rutschen und würde den Hang hinunterkollern auf die Felswand zu, und das wäre mein Ende. Schlotternd sass ich am Boden und hielt mich an den Grasbüscheln fest.
Es ging eine Weile, bis Walti etwas merkte. Er rief: «He, was ist los?» «Ich habe Angst!», presste ich hervor.
Zu meiner Überraschung lachte Walti nicht. Er legte sofort seine Sense nieder und kam mit sicheren Schritten quer über den Steilhang zu mir, nahm mich an der Hand und führte mich zu einem weniger steilen Platz. Seine grobe Hand fühlte sich gut und sicher an. Es war eine der wenigen Körperberührungen zwischen uns. Ich liess mich führen, und die Angst verflog mit jedem Schritt. Nachdem ich einen Schluck Most getrunken und mich mit dem Hang wieder vertraut gemacht hatte, war ich wieder arbeitsfähig. Keiner von uns sprach je wieder davon.
Der Höhepunkt des Wildiheuens kam am Ende des Tages. Die Ernte konnte ins Tal gefahren werden. Zu diesem Zweck war vom Schwalmishang bis zu einem Hügel in der Nähe der Alphütte ein Drahtseil gespannt. Walti zog das weisse Burdihemd über, das ihn vor dem kratzenden Heustaub schützte, stemmte sich von unten an die Burdi, griff mit beiden Händen über den Kopf in das Netz. Ich löste oben die Befestigung, die die Burdi vor dem Wegrollen gesichert hatte und Walti hob die Burdi hoch. Er verschwand dabei fast unter dem riesigen Heuballen. Ich sah die Burdi auf zwei Beinen wegwanken und staunte über Waltis Gleichgewichtsgefühl und Orientierungsinn. Er konnte bestimmt nichts sehen ausser den Boden unter sich und schritt doch so trittsicher auf das Seil zu, als würde er einen Spaziergang im flachen Gelände machen. Ich rannte neben ihm her und half ihm beim Absetzen der Burdi.
Während ich die Burdi hielt, fädelte Walti einen Haken, an dessen oberem Ende eine gut geölte Rolle befestigt war, in das Netz ein und hob die Rolle auf das Seil. Auf Waltis Kommando liess ich die Burdi los, und von einem urchigen Jauchzer begleitet sauste sie dem Seil entlang talwärts. Das Sirren der Rolle war noch lange hörbar, während die Burdi auf ihrem Weg über das Tal kleiner und kleiner wurde. Dann schlug der Ballen am Rammbock am Ende des Seils auf. Ich stellte mir immer wieder vor, wie es wohl wäre, an so einer Rolle über das Tal zu gleiten, aber die Angst vor dem Aufprall am Prellbock hielt mich davon ab. Zudem wusste ich nicht, ob ich mich während der Fahrt, die sicher fünfzehn Sekunden im rasenden Tempo dauerte, würde halten können. Als ich einmal unten beim Rammbock stand, wollte ich die Rolle aus dem Seil aushängen. Ich verbrannte mir die Finger an der glühend heissen Rolle, was mir noch zusätzlichen Respekt vor der Burdiseilfahrt verschaffte. Ganz lassen konnte ich es aber nicht. Vom Hügel, wo der Prellbock stand, führte noch ein Seil hinüber in den Heugaden hinein. Die Strecke von etwa fünfzig Metern hatte nicht mehr so viel Gefälle, und die Burdenen schwebten gemächlich auf die Hütte zu. Dies schien mir einen Versuch wert, um das Burdi-Schwebegefühl zu erleben. Ich hängte mich also mit einem Haken an das Seil. Mit pochendem Herzen genoss ich die Fahrt. Der Boden schoss unter mir vorbei. Ich hielt mich krampfhaft am Haken fest. Mit zunehmender Geschwindigkeit raste ich auf das offene Tor zur Heubühne zu. Ich hatte die Geschwindigkeit unterschätzt und schlug so heftig auf den Heugadenboden auf, dass ich den Schwung mit den Beinen nicht auffangen konnte. Mit einem spektakulären Überschlag mit halber Drehung landete ich im hintern Teil der Heubühne und hatte Glück, dass keine Gabel herumlag und die Luke in den Stall hinunter geschlossen war. Mit ein paar Schürfungen und Prellungen hatte ich mein Abenteuer überlebt und wusste nun, wie sich eine Burdi am Seil fühlte.
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