Genau! Lilly hat die Rosalind gespielt und Raoul …
… den Jaques, ergänzt Tanner vorlaut. Karl nickt anerkennend.
Es ist mein Lieblingsstück von meinem Lieblingsautor, gesteht Tanner. Ich habe früher auch leidenschaftlich gerne Theater gespielt!
Karl habe nur dieses Stück gesehen, sonst kenne er leider nichts von diesem Dichter. Er sei damals bei der Première gewesen. Ein großer Erfolg für die beiden. Sie hätten später noch oft davon gesprochen.
Tanner gibt Karl das Medaillon zurück und entfaltet den kleinen Fetzen Papier, der vorher aus dem Medaillon gefallen war.
Darauf ist eine Briefmarke und noch schwach erkennbar ein Teil eines Poststempels. Die Briefmarke ist offensichtlich von einem Briefumschlag abgerissen worden.
Tanner hält die Briefmarke noch einmal unter das Licht und erkennt auf der blassbläulichen Briefmarke ein Muster mit merkwürdigen Zeichen.
Ich wette, dass das eine australische Briefmarke ist. Ich glaube, dass diese Zeichen aus der Bildwelt der Aborigines stammen, Karl! Verstehst du! Die Ureinwohner Australiens.
Er gibt das Papier Karl, der damit ganz nahe an das Licht geht.
Wenn du Recht hast, Simon, stammt diese Briefmarke von dem Brief, den Raoul damals geschickt hat. Warum sonst trägt das Kind so einen Fetzen Papier im Medaillon, zwischen den Fotos seiner verstorbenen Mutter und seines verschollenen Vaters?
Ich werde Rosalind einfach danach fragen, wenn ich sie morgen sehe!
Du siehst sie morgen? Karl ruft es ganz erstaunt.
Jetzt erzählt Tanner ihm in Gottes Namen den Rest seiner Geschichte und entschuldigt sich bei ihm, dass er ihm das nicht gleich gesagt hat.
Aber schließlich hätte er bis gerade eben keine Zusammenhänge gewusst.
Karl versteht, macht aber ein sorgenvolles Gesicht.
Versprichst du mir, dass das vorläufig unter uns bleibt?
Tanner nickt und jetzt wird Karl ganz ernst.
Schwöre bei dem Leben, das heute Nacht in diesem Stall auf die Welt kommt, dass das unter uns beiden bleibt. Ruth hat unter dieser Sache lange genug gelitten.
Tanner schwört es selbstverständlich auf der Stelle und steckt das Papier in das Medaillon, bevor er es wieder verschließt.
Laura, die werdende Mutter, rührt sich. Karl geht zu ihr. Spricht zärtlich einige beruhigende Worte und streicht mit seinen Händen über ihren dicken Bauch. Laura beruhigt sich sofort unter seiner Berührung.
Seine rauen Hände … ganz sanft.
Jetzt trinken wir noch ein Glas, dann gehst du am besten ins Bett und ich lege mich hier auf mein schmales Lager und warte, bis es Madame gefällt, endlich niederzukommen.
Karl hat wieder zu seinem Humor zurückgefunden. Er wünscht Tanner eine gute Nacht. Tanner ihm und seiner Laura eine gute Geburt und verlässt den Stall.
Draußen ist es jetzt empfindlich kalt. Der Himmel ist voller Sterne. Tanner glaubt einen schnell vorüberziehenden Satelliten zu sehen.
Gute Reise, sagt er leise in seine Richtung und schon ist er wieder verschwunden.
Vielleicht war es auch nur ein hoch fliegendes Flugzeug, das ans andere Ende der Welt fliegt. Vielleicht nach Australien.
Tanner schaut zu Boden und erinnert sich an den Plan, vielmehr an die leidenschaftliche Idee aus seiner Kindheit, ein Loch durch die Erde zu bohren, um den Kängurus guten Tag sagen zu können.
Er verschiebt einmal mehr die Ausführung dieses Plans und geht die Außentreppe zu seinem Zimmer hoch.
Er hat nicht erwartet, dass noch Licht in der Küche brennt, aber enttäuscht ist er trotzdem. Auch Rosalind wartet nicht auf ihn. Wahrscheinlich hat sie Besseres zu tun, als einem allein stehenden Zimmerherr ein vielstrophiges Schlaflied zu singen.
Auf dem Display seines Telefons, das er heute Nachmittag in seinem Zimmer vergessen hat, ist eine Kurznachricht angezeigt. Er ruft die Combox an und freut sich, von ihr zu hören.
Wenigstens haben mich noch nicht alle Frauen vergessen, stöhnt er selbstironisch in Richtung von Leonor Finis Mädchenporträt, das auf dem Tisch liegt.
Hallo! Hallo, mein liiiiiiieber Tanner. Wenn sie gut gelaunt ist, nennt sie ihn Tanner, und wenn sie etwas von ihm will, wird das i in lieber auf mindestens sieben i ausgedehnt. Also Vorsicht, Tanner!
Bist du gut angekommen in deiner neuen Bleibe? Sind die Leute nett? Aber das kannst du mir ja morgen erzählen. Stell dir vor, wir fliegen morgen ganz früh mit der Compagnie von Stuttgart weg und haben eine Zwischenlandung in der Weltstadt, mit ungefähr einer Stunde Aufenthalt. Und es wäre sehr liiiiiiieb, wenn wir uns da treffen könnten. Das ist ja nicht weit weg von dir, und mit deinem schnellen Ford. Also, ich freue mich auf morgen. Ankomme zehnuhrsieben in. Jetzt geht Entchen schlafen … quak … quak … gähn … Entchen mut früh aufstehen morgen … quak … quak.
Tanner setzt sich aufs Bett und drückt die Wiederholungstaste. Dann beginnt Tanner nachzurechnen.
Ungefähr zwei Stunden bis Zürich! Und das nennt sie nicht weit! Denn er kennt Karls Auto nicht, dann noch den ewig verstopften Weg von Zürich zum Flughafen. Also: Um sieben Uhr aufstehen und gleich wegfahren. Und vor allem: Keine himmlisch duftende Röschti um acht Uhr! Vielleicht gibt's am Sonntag keine. Dafür frischen nach Hefe duftenden Zopf …
Aber da gibt es sowieso kein Abwägen von irgendwas.
Der Tanner fährt und der Tanner freut sich auch noch. Also ruft er am besten den telefonischen Weckdienst an und bestellt ein freundliches Wecken um sieben Uhr in der Frühe. Brav, Tanner, brav!
Er zieht sich aus, duscht ausgiebig und geht bewaffnet mit Medaillon, Messer und einer Lupe ins Bett. Da ist es allerdings zu dunkel und er muss sich direkt unter die Zimmerlampe stellen.
Mithilfe der Lupe erkennt man ganz deutlich die Jahreszahl des Poststempels.
Der Rest ist praktisch bis zur Unleserlichkeit verblasst. Er glaubt vor der Jahreszahl noch eine Fünf zu erkennen. Es könnte auch eine Sieben sein. Unter den Zahlen sind gewellte Linien. Wie abstrakte Meereswellen. Und der Teil eines Wortes, so etwas wie ace …. ace?
Welches Wort könnte das sein? Vielleicht Peace? Grace?
Da ihm im Moment nichts einfällt, legt er alles beiseite, löscht das Licht und versucht zu schlafen! Das heißt, er versucht dieser Glühbirnenfabrik in seinem Schädel den Strom abzudrehen.
Genau in dem Moment, als es ihm gelingt, die letzte Lichtquelle in der Fabrik zu löschen, geht leise die Tür auf und Honoré la boule macht einmal mehr sein Pst und will ihn wahrscheinlich an seiner kleinen Hand ins Land der Alpträume entführen.
Bitte, Zwerg, lass mich schlafen, ich muss morgen früh in die weite Welt!
Tanner seufzt und dreht sich auf die Seite.
Er hört ein leises Rascheln, wie Seide. Sein Herz macht einen Riesensprung.
Ein Etwas hebt die Decke. Ein glühend heißer Körper drängt sich ganz eng an ihn.
Pst! Simon! Ich bin es, Ruth!
Ihre Hand fährt sanft über sein Gesicht. Sie sind beide stumm.
Die Heftigkeit der Spannung, die wie aus dem Nichts in das kleine Zimmer eingebrochen ist, lässt ihre Herzen, wie toll geworden, tanzen.
Finger ertasten seine Lippen. Begehren Einlass. Sein Mund öffnet sich.
Wer gab ihm den Befehl?
Er beißt in ihren Finger! Er riecht Vanille und Zitrone. Er spürt, wie ihre Brustwarzen an seinem Rücken hart werden. Ihre Beine umklammern seine Beine.
Rasieren Bäuerinnen ihre Beine?
Seine Zähne entlassen ihren Finger und ihre Hand streicht über seinen Hals … über seine Brust … seinen Bauch. Sie greift zielstrebig zwischen seine Beine. Nach dem zu lange nicht mehr Berührten. Sie hält ihn fest, als würde sie ihn nie wieder loslassen.
Wenn du ihn noch länger hältst, spritze ich!
Als ob er es laut gesagt hätte, lässt sie ihn los. Er bereut sofort.
Sie streichelt seine Eier. Noch schlimmer.
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