Ruth und Karl sitzen am Tisch mit einer verschlossenen Flasche Wein und drei Gläsern. Sie haben also auf ihn gewartet, denkt er zufrieden.
Es ist noch nicht so weit. Wir können leider die Flasche noch nicht öffnen.
Karl sagt das mit echtem Bedauern. Tanner macht ein verständnisloses Gesicht.
Meine schöne Laura kriegt doch heute ein Kalb. Ich hatte damit gerechnet, dass es vor dem Nachtessen kommt, dann hätten wir mit Ihnen auf das neugeborene Mädchen anstoßen können.
Beim Wort Mädchen zwinkert ihm Karl beziehungsvoll zu.
Ach so, ja, das habe ich ganz vergessen. Ich werde gleich in den Stall gehen und die Mutter fragen, ob ich Pate sein darf. Ich würde so gerne als Pate ein kleines, kuhäugiges Mädchen verwöhnen. Oder ist die Position schon vergeben?
Tanner ist froh, wieder in der warmen und freundlichen Küche bei unkomplizierten Menschen zu sein. Sie lachen herzlich.
Ruth fragt ihn, ob er hungrig sei, sie habe einen Rest Gemüsekuchen für ihn warm gestellt. Tanner könnte sie auf der Stelle küssen …
Sie hat sich in der Zwischenzeit umgezogen. Man muss zugeben, dass die schwarze Cordhose und das weiße Männerhemd ihr bedeutend besser stehen als der blaue Rock und der viel zu weite Pullover von heute Nachmittag. Ihre dichten, braunen Haare hat sie frech mit einem Kamm zur Seite gesteckt. Das Rot ihrer Lippen ist auch deutlich intensiver.
Was für eine Verwandlung …
Tanner nimmt dankend an und sie holt Teller und Besteck aus dem Schrank. Und? Für was haben Sie sich entschieden? Malaga oder Orangensaft?
Karl fragt das in die Stille der Küche. Alle drei lachen.
Tanner erzählt ihnen von Madame's wässrigem Geschäft und Honoré's Dicht- und Reimkunst. Diesmal lachen sie, bis die Tränen kommen, und reimen da weiter, wo Honoré aufgehört hatte …
Dann erzählt er ihnen von der gestrigen Begegnung am Friedhof und dass die Alte sich bei ihm bedanken wollte. Tanner sagt jetzt auch schon selbstverständlich die Alte.
Ob er denn sonst niemand gesehen habe, fragt Ruth und er antwortet wahrheitsgetreu mit Nein.
Ein zugesteckter Zettel ist ja noch kein Treffen …
Der Gemüsekuchen schmeckt ausgezeichnet. Ruth hat für den Kuchen den Rest von mittags geschickt verwertet. Das Gemüse hat sie mit einer Sauce aus Eiern, Sahne und Käse aufgefüllt und mit schwarzen Oliven bespickt. Mit Genuss nimmt Tanner den zarten Geschmack von Muskat und von trockenem Sherry wahr, mit dem sie die Füllung gewürzt hat. Und er würde seine Krawatte verwetten, die er schon auf dem Heimweg ausgezogen hatte, dass sie den Blätterteig selber gemacht hat. Mit ihren schönen Händen.
Wie sich ihre Haut wohl anfühlt?
Während er heißhungrig isst, meint Karl trocken, es sei auf jeden Fall besser, dass die einem etwas schuldig seien als umgekehrt.
Seinem Tonfall ist anzumerken, dass er aus schmerzvoller Erfahrung spricht.
Tanner hält es für ratsam, das Thema im Moment nicht zu vertiefen, und sagt leichthin, er hätte gesehen, dass sein Auto draußen immer noch alle viere von sich streckt. Der Garagist hätte wohl noch keine Zeit gehabt. Es sei aber egal.
Karl verdreht die Augen.
Auf den ist leider kein Verlass! Ich werde ihn Montag früh gleich nochmals anrufen und ihm Feuer unterm Hintern machen.
Sie können gerne unser Auto ausleihen, falls Sie morgen ein Auto brauchen, Simon. Das wäre kein Problem.
Karl nickt beipflichtend und Tanner bedankt sich artig, versichert ihnen aber, dass er morgen nicht wegfahren müsse. Morgen sei ja Sonntag.
So kann der Mensch sich irren …
Tanner ist mit dem Essen fertig. Karl erhebt sich.
Ich muss mich um die werdende Mutter kümmern. Wenn Sie mich begleiten, stelle ich Sie Laura als zukünftigen Paten ihrer Tochter vor.
Tanner blickt fragend zu Ruth. Sie antwortet sehr schnell. Ohne seinem Blick zu begegnen.
Gehen Sie nur mit, Simon. Ich wasche noch das Geschirr ab, dann gehe ich sowieso ins Bett. Ich lese gerade ein sehr spannendes Buch.
Bevor er antworten kann, nimmt Karl eine Flasche und zwei Gläser aus dem Schrank. Er hat das Gefühl, Karl möchte nicht, dass Ruth mit ihm weiter über den Besuch bei der Alten spricht. Er fügt sich in sein Schicksal, obwohl er nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, noch ein wenig mit Ruth über den Finidori Clan zu plaudern.
Auch hätte er gerne, quasi als Dessert, noch mal ihren Vanille- und Zitronenduft geschnuppert. Ohne sich die Hand zu reichen, verabschieden sie sich. Sie schaut ihn nur flüchtig an.
Draußen im Gang schubst der große Hund seine feuchte Nase in die Hand von Tanner. Er erschrickt zuerst, dann streichelt er ihn zwischen den Ohren.
Er mag Sie, Simon, meint Karl gut gelaunt.
Er heißt Sabatschka. Das ist russisch. Und heißt Hündchen. Meine Frau hatte damals einen russischen Film gesehen. Mit einem Hund, der so hieß. Ich habe den Film nicht gesehen.
Aber ich habe den Film gesehen, denkt sich Tanner. Sieh einer an.
Ruth schaut sich russische Filme an.
Als Ruth den Film gesehen hat, war der Hund noch ein winziger Wollknäuel. Jetzt ist er halt gewachsen, aber der Name ist ihm geblieben. Zum Glück weiß er nicht, was der Name bedeutet, sonst wäre er beleidigt, sagt Karl lachend und sie gehen gemeinsam aus dem Haus.
Sabatschka. Leise murmelt Tanner den Namen vor sich hin.
Draußen bläst der Wind. Die Brise hat wieder aufgefrischt. Im Stall brennt eine nackte Glühbirne. Tanner muss sich zuerst an den scharfen Geruch der Kühe gewöhnen. Zum Glück ist es herrlich warm. Ein Aufenthalt pro Tag im Kühlraum reicht ihm für einen gewöhnlichen Samstag. Viele große Augen schauen ihn an. Nur eine Kuh, ganz hinten im Stall, liegt abgewandt. Tanner vermutet, dass das die werdende Mutter ist. Sie hat andere Interessen,als die beiden Männer anzuglotzen.
Das dahinten sei seine Laura, bestätigt Karl in diesem Moment seine Vermutung. Die meisten Kühe stehen noch, nur Laura liegt im frischen Stroh. Alle kauen gleichgültig mit mahlenden Geräuschen vor sich hin.
Karl besitzt dreizehn schwarzweiße Kühe, mit schön geformten Hörnern. Jede Kuh hat in beiden Ohren gelbe Plastikmarken mit einem Code drauf.
Eine Kuh ohne Hörner ist für mich keine Kuh. Ich bin da altmodisch. Bei mir im Stall hat sich noch keine Kuh verletzt. Voller Stolz redet Karl über seine Kühe.
Das ist doch, äh … ja, wie wenn du einer Frau die Haare glatt abrasierst. Ihr ganzer Stolz ist hin. Jawohl. Setzen Sie sich, Simon, bitte.
So viele Worte auf einmal hat Tanner den ganzen Tag von Karl nicht gehört.
Der Stall öffnet sich hinten nach links in einen kleinen Nebenstall, in dem Strohballen bis unter die Holzdecke gestapelt sind und wo, in seinem rückwärtigen Teil, abgetrennt durch ein abgeschabtes Holzgitter, zwei kleine Kälber breitbeinig dastehen und die beiden Männer neugierig beäugen.
Karl wirft drei Strohballen geschickt zu einer kleinen, improvisierten Sitzgruppe zusammen, legt auf den mittleren Ballen ein kleines Brett, worauf er Flasche und Gläser stellt. Er wiederholt noch einmal seine Aufforderung und sie setzen sich.
Vor den Ballenstapeln steht ein zusammenklappbares Bett, mit einem weißen Kissen und einer Wolldecke. Karl bemerkt Tanners Blick.
Ja, ja, vielleicht muss ich heute im Stall übernachten. Es ist ihr erstes Kalb.
Es ist sehr still im Stall. Manchmal hört man das Stroh rascheln.
Dann und wann reibt eine Kuh ihren Kopf an einem Balken. Und das gleichmäßige Geräusch des Wiederkäuens.
Tanner hat das Gefühl, er sitze mitten in einem warmen Bauch.
Lauter Verdauungsgeräusche.
Meistens träume ich hier ganz besondere Träume!
Das Wort besondere dehnt Karl genüsslich und lachend schenkt er ein. Sie prosten sich zu, auch in Richtung Laura.
Auf eine glückliche Niederkunft und auf dass wir heute Nacht ganz besondere Träume haben!
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