1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Unter dem Vordach aus Glas, das die drei Steinstufen vor der Haustür überdeckt, schüttelt der Zwerg mit einer gewaltigen Eruption den Schirm und schließt ihn mit einer Eleganz, die Tanner diesem Körper nie zugetraut hätte. Der Griff des geschlossenen Schirmes reicht ihm bis über seine Augenhöhe.
A l'attaque, Mistär Bönd! Miss Mönij Pänny 'add 'eute malheureusement fräi, isch bringä Sie sälbär zü M, sagt der kleine Kugelmann verschmitzt und sie betreten die geräumige Eingangshalle.
Alte Steinfliesen in Schwarz und Weiß bedecken den Boden. An den Wänden hängen Waffen aller Art. Morgensterne, Hellebarden, Lanzen, große Landknechtsschwerter. Mitten in der Halle steht am Boden eine Kanone. Ihr Lauf ist freundlicherweise genau auf die Eingangstür gerichtet, so dass jeder, der eintritt, gleich als Erstes in eine Kanonenmündung blickt.
Wer die Strecke zwischen Eingangstür und Kanone lebend hinter sich bringt, erreicht eine breite Steintreppe, die in das obere Stockwerk führt.
Links und rechts von der Treppe führen zwei symmetrisch angelegte Gänge in die Tiefe des Hauses. Mitten im Raum hängt ein antiker Eisenleuchter, direkt über der Kanone, an dem nur jede zweite Glühbirne brennt.
Reiche Leute sind sparsam, denkt Tanner und hört gleichzeitig, gedämpft aus der Tiefe des Hauses, dass jemand Klavier spielt.
Angesichts der pompösen Eingangshalle denkt er sofort an einen großen Konzertflügel in einem luftig hellen Salon, in dem ein romantisches Kaminfeuer knistert. Er sieht wertvolle Bücher bis unter die Decke, bequeme Sofas und Fauteuils, alten Cognac in bauchigen Gläsern, in denen sich das knisternde Kaminfeuer widerspiegelt, Damen mit tief ausgeschnittenen Dekoll …
Träumen Sie nicht, Tanner! Nehmen Sie die Wolldecke und folgen Sie mir!
Honoré, der Zwerg, hält ihm tatsächlich mit seinen kurzen Ärmchen eine Wolldecke hin. Er hat sich unterdessen seines schwarzen Umhangs oder Mantels, den er draußen trug, entledigt. Auch seines Kauderwelschs.
Er steht, mit einer maßgeschneiderten Butleruniform, oder so was Ähnlichem, vor Tanner. Allerdings ist zu befürchten, dass der Schneider, der hier am Werk war, schon längst das Zeitliche gesegnet hat. Tanner nimmt die Wolldecke, aus Schweizer Armeebeständen, und klemmt sie sich unter den Arm.
Honoré, genannt la boule, steuert auf den linken Gang zu, der nicht erleuchtet ist, und vage erkennt man weitere schimmernde Waffen an den Wänden. Die ostasiatischen Abteilung. Linker Hand des Ganges befinden sich drei Holztüren. Die Türgriffe aus Messing leuchten matt in der Dunkelheit.
Der Zwerg hält vor einem dunklen, schweren Vorhang inne, dreht sich um, legt seinen Miniaturfinger auf seine Lippen.
Pst!
Tanner kann ihn nur noch schemenhaft erkennen, so dunkel ist es. Der Zwerg nestelt links an der Wand irgendwas, und das Klavierstück, das Tanner kennt, aber leider nicht erkennt, bricht ab. Wahrscheinlich hat der Zwerg eine in der Wand eingelassene Klingel bedient.
Gerade will Tanner ihn fragen, ob er vor der exécution, wie der Zwerg es vorhin nannte, nicht noch schnell auf die Toilette gehen könnte, als der sich wieder umdreht und die Nummer mit dem Pst wiederholt.
Gottergeben schweigt Tanner und harrt der Dinge, die da kommen. Er hätte besser die Flucht ergriffen. Jetzt wäre es gerade noch möglich gewesen.
Unvermittelt teilt der Zwerg den Vorhang und zieht ihn am Ärmel in den Raum. Hat er auf zehn gezählt?
Hier ist es aber ziemlich kühl, ist Tanners erster Gedanke und er ersetzt sofort in dem Satz, reiche Leute sind sparsam, das Wort sparsam durch geizig.
Dann sieht er tatsächlich den Flügel. Das heißt, er sieht zwei Kerzenstummel, die links und rechts von den Notenblättern flackern. Am Flügel sitzt niemand. Der Zwerg ist verschwunden, als ob er sich in Luft aufgelöst hätte. Außer den beiden Kerzen gibt es keine Lichtquelle.
Seine Augen gewöhnen sich nur langsam an die Dunkelheit. Tanner steht in einem großen Salon. Schwere Vorhänge schließen das Tageslicht aus. Roter Samt? Stattliche Möbel stehen ohne erkennbare Ordnung herum. Die meisten sind mit Tüchern bedeckt. Tatsächlich gibt es einen Kamin, aber es brennt kein romantisches Feuer darin. Abgesehen von der Romantik, hätte der Raum gut einen wärmenden Beitrag an seinen Klimahaushalt vertragen. Tanner fröstelt und ihm dämmert die Bedeutung der Wolldecke.
Wollen Sie noch lange so rumstehen, oder haben Sie Hämorrhoiden?
Die Stimme kommt aus der Tanner diagonal gegenüberliegenden Ecke des Raumes und er macht ein paar Schritte in diese Richtung.
Die Stimme, die ihn angesprochen hat, war gar nicht so unangenehm. Befehlsgewohnt ja, aber nicht unangenehm. Als Eröffnung findet Tanner die Frage etwas ungewöhnlich. Aber bitte!
Danke für Ihre fürsorgliche Nachfrage. Sie kennen sich aus mit diesem Problem? Ich habe im Moment wohl eher ein Augenleiden, denn ich sehe Sie schlecht bis gar nicht. Im Übrigen heiße ich Simon Tanner und bin gestern auf dem Marrerhof, bei Ruth und Karl, eingezogen.
Stille. Dann ein geradezu herzerfrischendes Lachen. Aber worüber?
Gut! Sie können parieren und lassen sich so schnell nicht einschüchtern! Gut!
Schön wär's, denkt er.
Kommen Sie, setzen Sie sich endlich.
Sie schlägt mit ihrem Stock auf den Tisch.
Tanner geht näher und sieht jetzt eine hochgewachsene Frau an einem runden Tisch sitzen.
Eine dicke Samtdecke bedeckt den Tisch. Vermutlich Ochsenblutrot. Der Saum reicht bis auf den Boden.
Seine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit.
Sie hat weißes Haar, das streng nach hinten geknotet ist. Die Haut spannt sich regelrecht über ihren Schädel und ihre hellwachen Augen blicken ihn neugierig an. Tanner ist sich sicher, dass sich früher die Männer scharenweise nach ihr umgedreht haben.
Die Samtdecke hat sie auf ihrer Tischseite bis weit über ihre Knie hochgezogen. Mit ihrer Linken hält sie den Zipfel der Decke in ihrer knochigen Hand.
Sie müssen entschuldigen, ich bin gleich fertig!
Mit mir?
Tanner verkneift sich diese Frage und sagt stattdessen, wohlwissend, dass nicht sie Klavier gespielt hat. Mit diesen Händen …
Sie haben sehr schön Klavier gespielt. Ich komme leider nicht drauf, was Sie gespielt haben.
Sie lacht wieder ihr lautes Lachen.
Das war jetzt unter Ihrem Niveau, Tanner! Sie wissen genau, dass nicht ich Klavier gespielt habe. Schauen Sie sich doch meine Hände an! Eigentlich wollten Sie fragen, wer gespielt hat? Stimmt's? Oder habe ich Recht?
Sie erhebt sich, stützt sich dabei auf ihren Stock, behält dabei aber weiterhin die Tischdecke in der Hand und ruft mit lauter Stimme.
Zwerg! Wo bleibst du? Wart nur! Hast du mich vergessen?
Tanner hört hinter sich ein Geräusch und schon schießt die uniformierte Kugel an ihm vorbei, nimmt den Stuhl weg, auf dem die Alte bis jetzt gesessen hat.
Isch bijn ja da. Nür käinä Aufrägüng, Madame!
La boule ijst niemand, där värgisst!
Schon gar nischt, wenn Madame gepisst.
Isch bringä jätzt zu Hinz und Künz,
Ihrän gold'nän, teurän Brünz.
Um Millimeter nur verpasst der niedersausende Stock den Rücken des Zwerges. In dem Stuhl, den Honoré an Tanner vorüberträgt, ist ein Gefäß eingelassen, in dem hörbar Madames Wasser plätschert.
Während die Alte ihren Rock glatt streicht, offensichtlich trägt sie keine Unterwäsche, oder Tanner versteht ihre Technik nicht, hört er draußen im Gang weitere Dichterworte des großen Honoré. Leider versteht er nur noch den Anfang der nächsten Zeile. Aliäs Läbän fließt in ruhigär Bahn,
Seulement Madame und ihr Galan …
Der Rest verliert sich leider in der Ferne. Tanners Sympathie für den kleinen Gnom wächst von Minute zu Minute.
Die Alte greift unter den Tisch und bringt eine Literflasche Kölnisch Wasser zum Vorschein. Mit einem: Wollen Sie auch, Tanner?, bietet sie ihm die Flasche an. Und mit einem: Danke, ich habe schon!, wehrt er entschieden das Angebot ab. Lieber wäre ihm jetzt eine Zigarette.
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