Im Auto von Ruth und Karl riecht es nach Land und Stall. Tanner fühlt sich darin irgendwie zu Hause. Er fährt trotzdem nicht direkt auf die Autobahn, sondern gondelt unschlüssig Richtung Stadt. Er lässt sich, ohne ein Ziel zu haben, durch den Verkehr treiben. So im Sinne von: Ist die Spur nach links frei, fährt man nach links. Mit dieser Methode des geringsten Widerstandes landet er schließlich an einem Park am See und stellt das Auto auf einen Parkplatz.
Dem Parkautomaten beichtet er demütig seine missliche Lage und er bildet sich ein, dass der graue Automat leise keinä Problema flüstert. Wenn du wüsstest!
Tanner schlendert zum Ufer.
Kein Mensch ist zu sehen. Alle sind auf dem Weg nach Australien. Er versteht das sehr gut. Er möchte ja auch dorthin.
Das ist das nämliche Gefühl, das Tanner als Junge hatte: Die gesamte Menschheit aalt sich ausnahmslos im städtischen Gartenbad. Er alleine muss den mächtigen Haufen Abbruchholz, den sein Vater mittels seines Motorrads plus Anhänger, emsig wie eine motorisierte Ameise, in den Hinterhof ihres Hauses herankarrte, von Nägeln und anderen Eisenteilen befreien, zur Schonung der Säge, anschließend zersägen, von Hand, dann zerspalten und, sozusagen als Dessert, fein säuberlich im Keller nach genauen ästhetischen Vorschriften aufschichten.
Sein Vorgänger im Altertum hieß übrigens Herr Sisyphos.
Tanners Arbeit war tatsächlich keinen Deut sinnvoller. Als nämlich das Haus kurz darauf verkauft wurde, bauten die neuen Besitzer als Erstes sofort eine Zentralheizung ein und die ganze von ihm im Schweiße seines Angesichts und mit heißen Tränen der Ohnmacht aufgerichtete hölzerne Zikkurat wurde, ohne je seiner Bestimmung übergeben worden zu sein – er als Opfer und Priester in Personalunion – und ohne je in die Liste der Weltwunder aufgenommen zu werden, in der städtischen Kehrrichtverbrennung verbrannt.
Mein Gott, Tanner, anstatt knietief und voller Selbstmitleid in deiner Vergangenheit herumzuwaten, solltest du dir lieber mal überlegen, was du als Nächstes vorhast!
Er macht diese kleine, selbstkritische Anmerkung zu einer Möwe, die auf einem in den Seeboden gerammten Pfahl steht und ihm ängstlich zuhört. Erschreckt fliegt sie von dannen.
Apropos Möwe!
Tanner nestelt sein Telefon aus der Jacke und wählt die Nummer der Auskunft.
Während er auf die Verbindung wartet, setzt er sich auf eine Bank, gestiftet von der Ornithologischen Gesellschaft. Ein Penner hat seine halb volle Weinflasche unter der Bank vergessen. Vielleicht hat er gerade entdeckt, dass er im Lotto gewonnen hat. Warum sollte er sonst die Weinflasche stehen lassen?
Swisscom! Sie wünschen? Eine Frauenstimme plärrt in sein Ohr. Ich möchte bitte die Telefonnummer von einer Emma Goldfarb.
Mehr weiß ich leider nicht! Es knistert und rauscht im Hörer.
Tanner macht ein ebenso gespanntes Gesicht wie weiland Jodie Foster im Film Contact, wo sie vor den mächtigen Radioteleskopen auf irgendeinem südamerikanischen Hochland sitzt und sehnsüchtig auf eine Botschaft aus dem All wartet, denn gerade haben die Bösen ihre Forschungsgelder gestrichen …
Es gibt zwei Emma Goldfarb! Die eine ist Zahnärztin und bei der anderen steht gar nichts. Welche Nummer wollen Sie?
Er sollte zwar dringend wieder einmal zum Zahnarzt, aber nicht jetzt. Zudem ist heute Sonntag.
Können Sie mich gleich mit der verbinden, wo nichts steht?
Wieder Knistern und Rauschen.
Er sagt ein artiges Danke ins weite All und wartet.
Da ist Anna, wer bist du, meldet sich eine Mädchenstimme an seinem Ohr. Damals war Anna ja noch ganz klein.
Ich bin der Tanner. Bist du alleine zu Hause?
Das darf ich nie sagen am Telefon, wenn ich alleine zu Hause bin! Hat mir meine Mami gesagt!
Da hat deine Mami ganz Recht. Gehst du schon zur Schule, Anna? Was Intelligenteres fällt ihm auf Grund seines leeren Magens nicht ein.
Ja, ich gehe in die zweite Klasse. Wir sind die Bienen und die anderen sind die Mäuse. Ich fahre auch allein mit dem Tram in die Schule und zurück. Einmal war ein ganz lieber Tramchauffeur. Ich hatte nämlich kein Geld mehr. Und Mama hat vergessen, das neue Monatsabi zu kaufen. Ich hatte mir am Morgen ein Glassee gekauft.
Er wechselt das Ohr.
Also bin ich vorne zum Mann gegangen und habe ihm gesagt, ich hätte am Morgen aus Versehen ein Glassee gekauft anstatt ein Billiee. Und weißt du, was der Mann gesagt hat?
Ne, Anna! Keine Ahnung!
Wetten, sie durfte auch nicht auf den Schulausflug nach Australien …
Er hat gesagt … und alle haben gelacht in der Tram … wart mal … jetzt ist mir das Brot auf den Boden gefallen … raschel, raschel … Bist du noch da?
Er ist sicher, sie isst ein Nutella-Brot!
Der Mann hat gesagt: Kauf dir das nächste Mal aus Versehen ein Billiee und jetzt setz dich, ich muss losfahren.
Sie prustet lachend ins Telefon und Tanner wechselt erneut das Ohr.
Das ist aber ein ganz lieber Mann!
Und für einen Moment glauben beide an das Gute im Menschen. Anna, hat dir deine Mama eine Telefonnummer aufgeschrieben, wo man sie anrufen kann?
Und bitte, gib mir was von deinem Brot ab.
Ja, das hat sie.
Wieder beißt sie in ihr Brot.
Würdest du mir bitte die Nummer sagen?
Genüsslich kauend sagt sie die Nummer und zur Sicherheit bittet er sie, die Nummer zu wiederholen.
Vielen Dank, Anna, das war ein sehr schönes Gespräch. Vielleicht sehen wir uns mal. Aus Versehen! Ciao!
Sie prustet wieder los und bevor sie ihn bittet, ihr per Telefon die Hausaufgaben fürs Rechnen zu lösen, unterbricht er die Verbindung.
Staatsanwaltschaft Zürich. Goldfarb am Apparat!
Aha … Frau Staatsanwältin macht am Sonntag Überstunden! Das ist die fröhliche Stimme von Emma, die er nun seit mindestens vier Jahren nicht mehr gehört hat.
Sie ist eine dieser nicht ganz schlanken Frauen, in deren Armen man sofort vergisst, dass man unbedingt, immer schon, eine ganz schlanke Freundin wollte. Gleich wird ihre gute Laune ein jähes Ende finden …
Emma, du wirst es nicht glauben, hier ist der Tanner. Ich bin zurück aus Marokko und ich weiß, gleich wirst du sehr wütend sein. Und du wirst mit allem, was du mir sagen wirst, auf der ganzen Linie Recht haben, mehr als Recht, und ich bitte dich demütig um Vergebung, aber ich brauche dringend deine Hilfe!
Jetzt muss er Atem holen.
Das kann nicht sein! Bist du es wirklich, Simon?
Ein klitzekleines bisschen Freude glaubt er in ihrer Stimme zu hören, und schon packt ihn der Übermut.
Ne, ich bin bloß ein Namensvetter. Ich sitze auf einer Bank am See, die von der Ornithologischen Gesellschaft spendiert wurde. Ich bin hicks … ein Penner, hicks … meine Weinflasche ist nur noch halb voll und ups … ich bitte rülps … Entschuldigung! … um eine milde Gabe.
Jetzt ist erst mal Stille im Äther und Tanner befürchtet schon, sie habe aufgelegt.
Du bist ein Arschloch! Lass mich in Frieden! Ich möchte nichts mehr mit dir zu tun haben! Ist das klar?
Jetzt ist die Reihe an ihm zu schweigen.
Hast du etwa mit Anna telefoniert? Ja, natürlich! Woher hast du sonst die Nummer bekommen. Sie schnaubt wütend ins Telefon. Deine Anna fand mich, glaube ich, sehr nett. Wir hatten ein sehr schönes Telefongespräch. Auch hat sie mir ein kleines Geheimnis anvertraut.
Der Köder ist ausgeworfen.
So, so! Ein Geheimnis hat sie dir erzählt. Das war ja schon immer deine Stärke, den Frauen Geheimnisse aus der Nase zu ziehen.
Warum nennst du nicht auch noch andere Körperöffnungen, Emmalein? Gerade noch rechtzeitig kann er diese Bemerkung runterschlucken.
In Marokko hat's wohl nicht so funktioniert, gell, Tanner. Da hast du ja ein schönes Debakel veranstaltet, wie man hört.
Im Flug abgeschossen! Das konnte sie schon immer gut, deswegen ist sie ja Staatsanwältin geworden.
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