Und er war verliebt in das Essen von Khadjia, seiner Köchin, in ihre tajine, das kochend heiß servierte Eintopfgericht. Oder in ihre unvergesslichen Pfannkuchen. Ihre hachischa. Eine Haschischkonfitüre, die stundenlang auf ihrem kleinen Gaskocher köchelte und deren Duft das ganze Haus erfüllte.
Mein Gott! Habe ich einen Hunger !
Das Wasser läuft ihm buchstäblich im Munde zusammen, wenn er sich all die Speisen vorstellt, die Khadjia Tag für Tag für ihn kochte. Er war die ganze Zeit, wo sie bei ihm war, nie in einem Restaurant essen. Sie hätte ihn auf der Stelle mit ihren dicken Armen erwürgt.
Khadjia war ganze vierzehn Jahre, als sie das erste Mal schwanger wurde. In Afrika keine Ausnahme. Allerdings haben sich auch dort die Zeiten geändert. Fatima, ihre erste Tochter, hat ihr erstes und einziges Kind Fawzia erst mit neunzehn Jahren geboren.
Fawzia war ein auffallend hellhäutiges Mädchen mit dunklen, sehr ernsthaften Augen und einem widerspenstigen Haarschopf, den ihre Mutter und Großmutter mit vereinten Kräften vergebens zu bändigen versuchten. Der Vater von Fawzia war kurz vor ihrer Geburt bei einem tragischen Unfall im marokkanischen Militär umgekommen. Fatima half ihrer Mutter oft in seinem kleinen Haushalt. Sie bügelte seine Hemden, putzte das kleine Haus und kümmerte sich liebevoll um all die vielen Pflanzen, die ohne sein Dazutun ins Haus kamen und es immer mehr in ein Gewächshaus verwandelten. In großen und kleinen Töpfen, auch in ausgedienten Waschzubern, wuchsen Rosen, Wicken, Bougainvilleen, Dahlien, Jasmin und viele andere Gewächse, deren Namen er sich nie merken konnte.
Wenn beide Frauen beschäftigt waren, und er hatte sie kaum einmal unbeschäftigt gesehen, saß die kleine Fawzia still am Boden bei ihm im Arbeitszimmer, malte oder spielte mit den einfachen Spielsachen, die er ihr nach und nach vom Bazar mitbrachte. Sie war damals sechs Jahre alt. Später zog ihre Mutter mit dem Kind in den Norden, nach Tetouan, wo sie Arbeit in einer Fabrik gefunden hat.
Tanner hat Fawzia erst wieder ein Jahr später gesehen.
Als kleinen Leichnam.
Man fand sie, nachdem sie vermisst wurde und die Polizei drei Wochen vergeblich nach ihr gesucht hatte, in einem Koffer in der Gepäckaufgabe.
All ihre Gliedmaßen waren fachmännisch vom Körper abgetrennt und nachträglich wieder angenäht worden. Ihre dunklen Augen fehlten.
Seither kochte Khadjia zwar noch für ihn, sprach aber kein einziges Wort mehr.
In den Zeitungen verschwieg man diese schrecklichen Manipulationen an dem kleinen Körper, um die Menschen nicht zu erschrecken. Es war das dritte Kind, das man so massakriert in einem Koffer gefunden hatte. Alles auffallend hellhäutige Mädchen.
Tanners Probleme in Marokko fingen erst an, als er sich in die Untersuchungen dieser Mordfälle einzumischen begann. Dies stand allerdings wirklich nicht in seinem Pflichtenheft.
Auf der Umfahrungsautobahn der Hauptstadt herrscht dichter Verkehr.
Kurz nach halb fünf Uhr, also früher als er befürchtet hat, erreicht er den kleinen See und das neu renovierte Schloss, das hinter noch unbelaubten Bäumen nur dürftig versteckt ist, biegt nach rechts in die Straße, die ins Dorf zu Ruth und Karl führt.
Er entscheidet sich angesichts der Uhrzeit, vor seinem Rendezvous nicht zum Hof zu fahren.
Kurz nach dem Schloss hält er den Wagen an und beschließt, hier zu warten. Vierhundert Meter vor ihm liegt das Gut und die Villa der Finidori.
Warum Rosalind ihn heimlich um ein Treffen bittet?
Und welche Rolle spielt Honoré in dieser Familie? Er wird bald mehr wissen!
Der Himmel hat auch hier aufgeklart, aber der Boden ist immer noch nass.
Er schließt seine Augen. Den Hunger spürt er nicht mehr. Dafür ist der Druck in seinem Bauch umso deutlicher geworden.
Wie soll er heute Abend Ruth begegnen? Er hat nicht die leiseste Ahnung. Um sich diesem Problem nicht weiter stellen zu müssen, öffnet er die Augen.
Gerade noch rechtzeitig.
Er sieht, wie vorne auf der Straße, etwa auf der Höhe der Villa, ein schwarzer Punkt die Straße überquert, ein paar Schritte in seine Richtung kommt und plötzlich einen kindlichen Hüpfer macht. Als ob er eine Pfütze überspringen würde.
Das ist doch Honoré, entschlüpft es überrascht seinen Lippen.
Er sieht zwar die Gestalt nur undeutlich, aber die Bewegung, die Art des Hüpfens und die rudernden Arme bei dem kleinen Hopser verraten eindeutig den Zwerg. Jetzt biegt er nach links in die kleine Straße ein, die zum Bach mit den Weiden hinunterführt beziehungsweise zu einem weiteren Hof mit Stallungen. Der hohe, viereckige Turm, der davor, mitten auf einer Wiese, steht, ist ihm gestern gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich, weil sein Blick bei der Herfahrt nur auf die Villa konzentriert war, die von hier aus gesehen, rechts von der Straße, liegt. Honoré geht jetzt in die Wiese, in Richtung des Turms. Einen Weg kann man, wegen der Perspektive, nicht ausmachen. Was will er denn in diesem alten Turm? Der alte Kornspeicher ist eine Art mittelalterliches Vorgängermodell zu den modernen Silos.
Der Zwerg ist mittlerweile hinter dem Turm verschwunden. Man kann nicht sehen, ob er in den Turm hineingegangen oder ob er hinter dem Turm einfach stehen geblieben ist.
Tanner startet den Motor. Auf der Höhe des Turms hält er kurz an. Die Wiese zwischen Bauernhof und Turm ist leer.
Ein schmaler Pfad verbindet tatsächlich die Straße mit dem Kornspeicher.
Auf dieser Seite des Turms befindet sich ein Eingang ohne sichtbare Tür. Entweder ist sie nach innen geöffnet oder es gibt keine. Von Honoré keine Spur.
Der kleine Hof gegenüber des Turms sieht unbewohnt aus. Entweder ist Honoré im Turm verschwunden. Oder in dem kleinen Bauernhaus. Dann hätte er allerdings mitten auf dem Weg zwischen Turm und Haus rechtsumkehrt machen müssen, und das ist eher unwahrscheinlich.
Diesen Turm schaue ich mir später an, beschließt Tanner. In diesem Moment braust vom Dorf her der grüne Geländewagen heran.
Auf der Höhe der Einfahrt zur Villa wird der Wagen energisch nach rechts gesteuert und mit kreischenden Rädern verschwindet der Wagen in der Einfahrt des Gutshofes.
Keinä Problema …, kichert Tanner vor sich hin.
Manuel hat allerdings nicht allein im Wagen gesessen. Da waren einige Personen im Auto, aber es ist einfach zu schnell gegangen, um mehr zu erkennen.
Beim Friedhof fährt Tanner den weißen Kombi auf den Feldweg und stellt ihn hinter die Baumgruppe, so dass man ihn weder vom Dorf noch von der Straße sehen kann.
Es ist drei Minuten vor fünf Uhr und man sieht niemanden.
Hoch oben in den Ästen singt der Kuckuck wieder seinen ewigen Text. Kuckuck … Kuckuck …! Oder heißt das vielleicht Guckguck … Guckguck?
Tanner steigt aus dem Auto und guckt! Sieht aber rein gar nichts! Guckguck … Guckguck!
Er blickt angestrengt auf den Weg, den Rosalind kommen müsste.
Und wenn sie nicht kommt?
Siedend heiß wird's ihm bei der Frage. Vielleicht hat sich der Zwerg einfach nur einen bösen Streich mit ihm ausgedacht. Ihn dabei so unangenehm genau einschätzend, dass es ihn fröstelt, und er denkt an die Falle, die man ihm in Marokko gestellt hat. Ein Kreislauf von sich ständig wiederholenden Ereignissen auf Grund der zwanghaften Verhaltensweisen von Tanner!
Tanner lächelt gequält vor sich hin.
Er öffnet nun zum dritten Mal innerhalb von zwei Tagen das rostige Friedhofstor. Ein unwissender Beobachter würde bestimmt denken, der spinnt doch.
An der linken Innenseite der Friedhofsmauer kauert Rosalind. Der Kuckuck fliegt davon.
Sie ist genau gleich gekleidet wie gestern, nur ohne Reiterhelm in der Hand. Auf ihrer Stirn klebt ein weißes Pflaster. Sie starrt auf den Boden, obwohl sie ihn ganz bestimmt hat eintreten hören. Steinerne Trauerengel, wie man sie auf italienischen Friedhöfen antreffen kann, blicken nicht trauriger auf den Boden.
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