Aber siehst du, wie schwer wir es dort auch hatten, mir scheint, es gab, solange ich in Amerika war, keinen einzigen Tag, an dem ich nicht mit einem tiefen Seufzer an unser Tal gedacht hätte. Es liegt in der Natur des Menschen, sogar den Stechginster lieb zu gewinnen, wenn er mitten darin geboren ist, sogar eine Gegend, wo du dich nicht gemütlich ins Gras legen kannst, ohne dass dir Kastanienschalen ihre Stacheln in den Hintern bohren.
In meinen letzten Jahren in Amerika musste ich hin und wieder eine Nacht in den Nightclubs von San Francisco verbummeln. Das hätte ich mir wahrhaftig nicht träumen lassen, als ich zum ersten Mal hinkam und kaum wusste, wie ich mich vor dem Tram, den Autos, den Wagen retten sollte. Mich dünkte, das Ende der Welt sei gekommen, denn bis dahin hatte ich nur den Postwagen von Lavizzara gesehen. Die durchlumpten Nächte musste ich auf mich nehmen, um geschäftliche Beziehungen zu pflegen. Damals betätigte ich mich als Grundstück- und Häusermakler und verdiente gut. Von Zeit zu Zeit kam es mir in den Sinn, wie ich in Cavergno den ganzen Tag lang Mist geschleppt hatte, und dann hatten sie mir zwei Franken gegeben … Was für ein Jammer! dachte ich voller Sehnsucht.
Unser Vater hatte sein Leben lang gearbeitet. Ferien gab es nie, nicht einmal an seinem Hochzeitstag. Als sie fertig gegessen hatten, gingen sie zusammen die Kuh versorgen. Ich kann es mir nicht einmal ausmalen, wie sie dort allein im Stall standen und sich befangen anblickten, weil sie jetzt doch Mann und Frau waren – und wie sie einander dann schüchtern halfen, die Kuh melken, Heu herunterholen, die Streu ausbreiten – wer weiß … Und wie sie später Tag um Tag morgens aufstanden, immer nur die Arbeit im Sinn, die vor ihnen lag. Die einzige Zeit, in der er sich nicht mit der Sorge um die Arbeit quälen musste, be-vor er sich noch daranmachte, war für meinen Vater der Militärdienst. Die Mutter hatte nicht einmal das gehabt; als Mädchen hatte man sie ein, zwei Mal nach Locarno mitgenommen, das war auch alles. Und nach all der Müh und Plage und Rappenspalterei mussten sie sich noch damit abfinden, uns in eine andere Welt fortziehen zu sehen. Hier verdiente ich mit meiner Unterschrift auf einem Blatt Papier mehr, als sie in fünfzig Jahren zusammengekratzt hatten … Welche der beiden Welten war die gerechtere? Gab es eine gerechtere Welt? Ich schloss die Augen und dachte: «Ihr wisst nicht, dass ich aus Roseto bin, dass ich in Corte Nuovo geboren wurde und mein Vater mich in einer gerla zur Taufe und wieder zurück getragen hat.» Das war meine Methode, es mir leichter zu machen, mein Gewissen zu beruhigen. Nicht dass ich unredliche Geschäfte betrieben hätte – aber das viele Geld, für das ich keinen Finger gerührt hatte, wo kam das her? Wer hatte es für mich erworben?
Gewöhnlich war ich bei solchen Anlässen mit Ranchern zusammen, die verbissen gespart hatten, um Geld zu machen, Leute, die es vorzogen, nicht von vergangenen Dingen zu reden, sondern rasch abzuschließen, um sich dann amüsieren zu können. Natürlich hatten wir Frauen dabei, Frauen, die so anders waren als unsere Frauen zu Hause: Sie tranken, sie tanzten, sie taten, als amüsierten sie sich, möglicherweise amüsierten sie sich wirklich. Ich nicht, ich langweilte mich. Vielleicht weil eine anfing, zärtlich zu tun und unter dem Tisch mit der Hand nach mir tastete, kam mir plötzlich meine Mutter mit ihrem baumwollenen Kopftuch in den Sinn und gleichzeitig mit dieser Erinnerung eine Art Reue, ein Überdruss an allem, was ich tat. «Wenn sie mich jetzt sähe!», dachte ich erschrocken und drehte mich um, um das alles mit den Augen unserer Mutter anzuschauen, diese Vergeudung an Licht, an Getränken, an Zigaretten, diese Weiber, diese Tänze. Letzten Endes lief das alles auf das gleiche Ziel hinaus und kein sehr hohes …
Schluss machen, sich davonmachen, nach Hause zurückkehren.
In solchen Augenblicken war mir die Musik ein Trost. Ich erinnere mich, dass mich einmal ein Neger fixierte, während er auf seiner Trompete spielte, und es war, als schrie er sein uraltes Leid, das dem meinen glich, einzig für mich aus sich heraus. Das Orchester, die Gäste, die Tische, die Kellner, alles verschwand.
Es gab nur noch ihn und mich, durch eine Kette andersartiger, aber irgendwie verwandter Erinnerun-gen miteinander verbunden. Dieses Erlebnis bewegte mich über Gebühr, denn bis dahin hatte ich die Neger mit den Augen der Rancher angesehen.
Auch in Roseto pflegten wir manchmal nach dem Rosenkranz vor der Kapelle zu sitzen und zu singen. Wir sangen Alpenlieder oder unser Valmaggia-Lied, das voraussagte, wie es später kommen würde:
E la sü in Valmagia gh’è pü da guadagn,
gh’è dumà’l me Pedro che fa sü i cavagn …*
«Jetzt gehn wir heim», befahl die Mutter an einem gewissen Punkt, und wir folgten ihr schweigend im Gänsemarsch den schmalen Weg entlang. Ringsherum sangen die Quellen, die man nachts in Roseto immerfort rieseln hört.
«Well, friend, what’s the matter?»
Ich wandte mich seufzend wieder den anderen zu.
Wann immer ich wegkonnte, nahm ich mein Auto und fuhr ins Salinas-Tal hinauf oder an der Küste gegen Santa Cruz zu, dem Grün der Weinberge entgegen. Der Wind fegte mir die Seele rein. Im ersten Morgenlicht streckte ich mich wohl auch unter einem Baum aus.
An der Küste lag die Bar eines Italieners, der seine Schürze zusammenrollte, um mir entgegenzulaufen. Er kam aus dem Val Camonica und unterhielt sich gern mit mir. Er erzählte von seinem Tal, ich von dem meinen, und dabei entdeckten wir, wie groß die Ähnlichkeit zwischen beiden war und wie viele Dinge wir auf die gleiche Art taten. Denen, die immer hier sitzen, scheint Italien ein fremdes Land zu sein, aber wenn man in der Welt herumkommt, merkt man leicht, dass die Italiener und wir aus dem gleichen Topf stammen.
Dieser Wirt aus dem Val Camonica war eines Tages aus sich herausgegangen, als er hörte, wie ich mit einem Mann aus dem Centovalli über den guten Weichkäse sprach, den wir im Mai in unseren Bergen machten.
«Ach ja», hatte er von seiner Theke her gesagt, «eher flach abrahmen und die Milch nicht zu stark erhitzen.»
Im ersten Moment blickten wir ihn beide scheel an, ohne zu antworten. In Amerika mischt man sich nicht in ein fremdes Gespräch ein, und er begann auch gleich wieder, mit seinem Tuch an der Theke herumzupolieren. Aber später wurden wir gute Freunde und unterhielten uns ganze Tage lang miteinander. Wir lachten und klopften uns gegenseitig ausgiebig auf die Schultern, und manchmal stieg uns beiden ein Kloß in den Hals, der mit einem weiteren Glas hinuntergespült werden musste. Dann kam seine Frau und schimpfte, dass sie die ganze Arbeit allein tun müsse. Der Mann blinzelte mir zu und verschwand, doch nach zehn Minuten war er wieder da.
«Weiber und Ochsen», sagte er, sich vorsichtig umblickend.
«Ja, ja», seufzte ich, und wir saßen mit gesenktem Kopf da und folgten diesem Gedankengang. Doch als wir dann aufblickten und jeder den anderen so belämmert sah, brachen wir in ein schallendes Gelächter aus. So begannen wir von unseren Frauen daheim zu sprechen, die in ihren zu langen Kleidern so spröde, aber letzten Endes begehrenswerter sind.
«Machts dir etwa Spaß, wenn du dich eine halbe Stunde abarbeiten musst, um nur ein Knie zu erblicken?»
Über alles redeten wir. Ich erinnere mich, dass wir einen ganzen Nachmittag lang verglichen, wie man einerseits bei uns und andererseits bei ihnen drüben die Messe sang. Wir probten die einzelnen Motive in lang gezogenen Tönen durch und freuten uns über die Ähnlichkeiten, die wir entdeckten.
Ein so armes Dorf wie unseres – und du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Erinnerungen es im Herzen eines Menschen zurücklässt, der fortmusste. Ich sage dir, in Amerika trugen wir Auswanderer unser Heimweh wie eine Krankheit in uns herum, und mit einem reden zu können, der aus unserer Gegend kam und unsere Art kannte, das war nicht das Gleiche wie mit anderen Leuten. Wir waren alle aufgewachsen, ohne je Zeit zum Spielen zu finden, und dann hatten wir den großen Sprung hier herüber getan, um zwölf Monate im Jahr zwölf Stunden täglich zu arbeiten. Das wäre nicht so schlimm gewesen, nicht anders als vorher jedenfalls, wenn wir nicht dieses große Heimweh mit uns herumgeschleppt hätten. Es zog uns zueinander, wir brauchten uns nur in die Augen zu schauen, um uns weniger einsam zu fühlen.
Читать дальше