Nach dem Vortrag war es schließlich so weit. Sr. Ana führte mich hinauf in die kleine Kapelle, die auch Mutters Kapelle genannt wurde, weil sie durch eine Tür direkt mit dem Zimmer der Gründerin verbunden war, die in den Jahren vor ihrem Tod nicht mehr an der Liturgie in der Klosterkirche teilnehmen hatte können. Es war ein kleiner Raum mit einem schlichten Altar, der so an die Wand geschoben war, dass der Priester die Messe »ad Dominum« feiern musste, also mit dem Rücken zum Volk. Links neben dem Altar hing ein moderner Tabernakel an der Wand, rechts eine gotische Marienfigur. In den Bänken, die insgesamt circa 20 Personen Platz boten, saßen schon einige Schwestern. Mein Platz war vorne in der ersten Reihe neben Sr. Ottilie. An jedem Platz lag ein Mäppchen im Din-A5-Format, das ein Programm und einige Liedblätter enthielt. Offenbar war eine richtige kleine Feier extra für mich vorbereitet worden. Ich war berührt. P. Rektor betrat die Kapelle. Er war in Albe und Stola gekleidet und eröffnete die Vesper. Nach der Lesung hielt er eine kurze Ansprache, an die ich mich nicht mehr erinnere. Dann segnete er das rote Kreuzchen und überreichte es Sr. Ottilie, die es mir umlegen sollte. Sie versuchte, mir die Kette über den Kopf zu ziehen, während ich vor ihr in der Bank kniete. Eine gefühlte Ewigkeit drückte sie auf meinem Kopf herum. Ich war peinlich berührt und stellte erneut fest, dass Sr. Ottilie mir unsympathisch war, schämte mich aber sofort dafür, gerade in diesem Moment einen solchen Gedanken zu haben. Endlich flüsterte eine andere Schwester ihr zu, dass sie die Kette doch einfach öffnen solle. Ich atmete innerlich auf. Sobald das rote Kreuz um meinen Hals hing, stimmte eine Schwester das Magnificat an.
An das Abendessen, die Feier des folgenden Tages und den Abschied habe ich keine Erinnerung mehr. Nur dunkel erinnere ich mich, dass ich nach der Abendanbetung noch einmal in eines der Empfangszimmer geführt wurde, um mit P. Rektor und einigen Schwestern einen Karottenkuchen mit Zuckerglasur und einem roten Marzipankreuzchen zu essen, der von den Küchenschwestern für mich gebacken worden war. Und ich erinnere mich, dass einige Schwestern mir vor und nach der Chormantelfeier bedeutungsvoll zulächelten. Die Feier sei für mich ein »Blick in die Zukunft«. Ein Satz, der mich nervte, da ich für den Augenblick ganz froh war, vorerst noch vom Chormantel verschont zu bleiben. Eines aber ist mir deutlich in Erinnerung, nämlich das gemischte Gefühl, mit dem ich am Montagmorgen nach meiner Heimkehr das Kreuz in der Schule unter dem Pulli trug. Es war ein unsichtbarer Fremdkörper in diesem vertrauten Umfeld meines Alltags, und es entfremdete mich diesem. Andererseits war es ein süßes Geheimnis. Ich wusste endlich, wo Gott mich haben wollte.
2. DER EINTRITT
Warnung vor dem Berufungskampf
Für mich war es beschlossene Sache, dass ich in die Königsfamilie eintreten würde. Für die Königsfamilie schien es dennoch wichtig, mich in diesem letzten Jahr vor dem Eintritt möglichst gut zu umsorgen. Sr. Ottilie schrieb ständig Briefe und rief mindestens einmal in der Woche bei uns an. Sie sagte mir, dass ich eine große Entscheidung gefällt hätte, die dem Widersacher Gottes keine Ruhe lassen würde. Jeder, der in die Königsfamilie eintreten wolle, müsse früher oder später einen Berufungskampf durchmachen, denn alles, was von Gott sei, werde von Satan angegriffen. Deswegen werde auch die Königsfamilie immer wieder verfolgt. Die letzte »Verfolgungswelle« sei erst ein paar Jahre her. Dennoch brächten diese schwierigen Zeiten auch immer einen besonderen Segen für die Gemeinschaft und neue Berufungen. Ich wunderte mich etwas über diese so feierliche, warnende Ankündigung und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, worin der Berufungskampf in meinem Fall bestehen sollte.
Die Königsfamilie zu Besuch bei uns
Es war wohl einerseits die Sorge, dass ich von meiner Entscheidung abgebracht werden könnte und andererseits die Hoffnung, in meinem Umfeld auf fruchtbaren Boden für weitere Berufungen zu stoßen, die uns in den folgenden Monaten zahlreiche Besuche von Vertretern der Königsfamilie einbrachten. Sr. Ottilie besuchte uns besonders häufig, meistens alleine, andere Male gemeinsam mit einer Mitschwester. Bei diesen Gelegenheiten scannte sie meine Familie, meine Pfarrei und mein gesamtes Umfeld möglichst weitläufig ab. Wer eignete sich für die Königsfamilie als Mitglied, als Spender, als Türöffner für weitere Kontakte? Im Blick auf meine Familie gab sie die Hoffnung recht bald auf. Sie eignete sich nicht zur Katakombenfamilie. Denn diese Familien müssen sich an einem ziemlich hohen Anspruch messen lassen. Nicht nur, dass ihre Wohnstätten Muster christlich-katholischen Familienlebens sein müssen, dass sie die komplette Morallehre der Kirche praktisch umsetzen müssen (inklusive Verzicht auf Empfängnisverhütung), sie müssen die Königsfamilie auch nach besten Kräften unterstützen, durch Arbeit oder Geld. Zu vielem davon war meine Familie einfach nicht in der Lage.
Sr. Ottilie stieß bei ihrer Suche nach geeigneten Kontaktpersonen und Multiplikatoren für die Königsfamilie in unserem Umfeld kaum auf fruchtbaren Boden. Einige der von ihr Angesprochenen reagierten abweisend. Dazu gehörte auch unser alter Pfarrer. Er mochte die Königsfamilie nicht, wahrscheinlich war er zu altmodisch für eine solche »neue Form des geweihten Lebens« ohne Habit, bestehend aus Männern und Frauen und ohne spezifisches Apostolat. Der neue Pfarrer war dagegen zu liberal, von daher kam er von vornherein nicht in Frage. Dennoch fand sich eine Zielgruppe für die Königsfamilie in meiner Gemeinde. Es gab ja viele gläubige russlanddeutsche Familien mit einer großen Schar Kinder. Einige von ihnen waren an der Königsfamilie durchaus interessiert. Es dauerte nicht lange, bis in regelmäßigen Abständen Patres der Königsfamilie in unseren Ort kamen und Vorträge für die vielen Kinder und Jugendlichen hielten, die im großen Wohnzimmer einer dieser Familien zusammenströmten. Es mochten im Schnitt so um die zwanzig sein, die über Mund-Propaganda von Familie zu Familie eingeladen wurden und gerne kamen. Das Ganze hatte einen gewissen Untergrundkirchen-Flair. Während die Jugendlichen und einige Eltern um sie herum auf der Couch, einigen Stühlen oder dem Fußboden saßen, sprachen die Patres über die Königsfamilie, über die Berufung zum Priestertum und zum geweihten Leben, über das Gewissen, die Liebe zur Kirche und den priesterlichen Segen. Wer wollte, konnte bei ihnen beichten. P. Christoph kam besonders oft, aber auch P. Rektor kam auf Besuch, hielt einen Vortrag für die russlanddeutschen Jugendlichen und kam auch zu uns nach Hause. Sein Besuch bei uns daheim blieb mir am eindrücklichsten in Erinnerung. Während meine Mutter noch mit Kochen beschäftigt war und sich ein wenig grämte, dass sie nicht rechtzeitig fertiggeworden war, setzte dieser große Mann sich einfach auf die kleine Eckbank in unserer Küche und ließ sich die Kartoffeln zum Schälen geben. So viel Bescheidenheit hatte ich noch bei keinem Priester erlebt. Ich betrachtete sie als Indiz für seine Heiligmäßigkeit. Diese Besuche waren eine große Ehre für uns. Es war ja schon etwas Besonderes, wenn der Pfarrer zu Besuch kam. Hier aber geschah viel mehr. Es waren Patres einer internationalen geistlichen Gemeinschaft, die schon viel in der Welt herumgekommen waren und die ein besonderes Charisma besaßen. Und jeder ihrer Besuche bedeutete für die Schwestern oder Patres mindestens drei bis vier Stunden einfache Fahrtzeit. Dass wir das Ziel dieser ihrer Mühen sein sollten, ehrte uns unbeschreiblich.
Ohne viel Zögern unterschrieben wir den sogenannten »Abendsegen«. Mit dieser Unterschrift bekundeten wir unsere Bereitschaft, täglich gegen 21.00 ein langes Gebet zu sprechen, dessen Text uns Sr. Ottilie auf eng bedruckten kleinen Kärtchen mitbrachte. Er handelte von unserer Dankbarkeit für »das große Geschenk des Glaubens« und für das Glaubensbeispiel »von Mutter« und enthielt die Bitte, dem Charisma der Königsfamilie und der »Heiligen Kirche« treu zu bleiben und »mutig« davon »Zeugnis abzulegen«. Das Gebet hieß deswegen »Abendsegen«, weil alle Patres und zahlreiche befreundete Priester der Königsfamilie jeden Abend gegen 21.00 diejenigen segneten, die dieses Gebet sprachen – über alle räumlichen Abstände hinweg. Durch diesen Segen sollte ein unsichtbares Band über die ganze Welt gesponnen werden, das segnende und gesegnete Mitglieder und Freunde der Königsfamilie miteinander verband. Mir gefiel diese Idee, auch wenn mir der Text des Gebetes zu lang und für ein Gebet viel zu umständlich formuliert erschien. Aber nicht nur den Abendsegen, auch alles andere, was von der Königsfamilie kam, betrachteten wir als sehr kostbar. Stapelweise erhielten wir Heftchen mit Vorträgen, die Patres der Königsfamilie gehalten hatten und die mit Titeln wie »Erlösung vom Selbstmitleid«, »Die wahre christliche Nächstenliebe« oder »Erneuert euer Denken« überschrieben waren. Sie schienen eine gute geistliche Nahrung zu sein, weil sie sich nicht darauf beschränkten, blumige Formulierungen aneinanderzureihen, sondern auch sehr klare Forderungen enthielten, die ein greifbares Fortkommen im geistlichen Leben versprachen. Außerdem gab es auch Hefte, die bei schwierigen Themen klare Orientierung gaben, wie beispielsweise zum interreligiösen Dialog, zum Internet oder zur künstlichen Fortpflanzung. In deutlichen Worten, die man vom eigenen Pfarrer kaum so zu hören bekam, legten sie die »Lehre der Kirche« dar. Es schien uns, als hätten wir einen Schatz entdeckt.
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