Im Sommer 2002, ein Jahr vor dem Abitur, begegnete ich auf dem Kongress »Freude am Glauben« in Fulda das erste Mal der »Königsfamilie«, einer Gemeinschaft, deren Vertreterinnen zunächst keinerlei Eindruck auf mich machten. Die Schwestern trugen keine Ordenstracht, den sogenannten Habit. Damit waren sie gedanklich für mich schon aussortiert. Sr. Ottilie, eine hartnäckige kleine Schwester, die ihr dünnes graues Haar in einer altmodischen Steckfrisur trug und in eine Art dunkelgrünen Trachtenrock gekleidet war, drückte mir dennoch einen Flyer in die Hand, dessen Titelblatt ein Blütenmotiv zierte. Auf farbigem Glanzpapier fand sich eine kurze, wenig sagende Beschreibung der Gemeinschaft. »Im Dienst der Kirche« – welche katholische Gemeinschaft ist das nicht? Dazu gab es einige Fotos, die mich nicht besonders ansprachen, im Gegenteil: einige Bilder von Schwestern in einem weißen Chormantel schreckten mich regelrecht ab. Sie trugen stilisierte Dornenkronen auf dem Kopf, an denen weiße Schleier befestigt waren. Unheimlich. Als ich die Kongresshalle am nächsten Tag betrat, schien Sr. Ottilie auf mich zu warten. Es war unmöglich, ihr auszuweichen. Zu meinem Schrecken lud sie mich ein, das Mutterhaus der Königsfamilie in Österreich zu besuchen. Da eine höfliche Ablehnung bei ihr nicht zu fruchten schien und ich nicht unhöflich sein wollte, nahm ich die Einladung nolens volens an. Ich konnte ja dann immer noch sagen, dass es nichts für mich sei, dachte ich.
Erster Besuch im Mutterhaus
Am Donnerstag, dem 15. August, fuhr Sr. Ottilie mit mir nach Österreich. Im Auto war es sehr heiß, und die Fahrt dauerte lang. Sr. Ottilie war nichtsdestotrotz sehr gut gelaunt, redete viel, und ich stellte erneut fest, dass sie mir unsympathisch war. Diese kleine Frau mit dem schmalen Gesicht und dem verkrampften Lachen hatte etwas unerträglich Besserwisserisches an sich. Natürlich bemühte ich mich, mir das nicht anmerken zu lassen. Sie sprach von der Königsfamilie und von der Gründerin, die 1997 verstorben war. Sie stellte mir Fragen und fand viele Übereinstimmungen zwischen dem, was ich von mir erzählte und dem, was sie das Charisma der Königsfamilie nannte. Genau erinnere ich mich nicht mehr an dieses Gespräch. Irgendwann übermannte mich einfach die Müdigkeit, und ich schlief ein.
Ich erwachte erst kurz vor der Ankunft wieder. Als wir auf den Parkplatz des Klosters einfuhren, stellte ich fest, dass es viel größer war, als ich erwartet hatte. Strahlend weiß lag die Anlage im Sonnenlicht. Die Fassade war mit langen gelbweißen Fahnen geschmückt. Die Pfortenschwester stand schon an der Tür und erwartete uns mit einem breiten Lächeln. Wir wurden auf das Freundlichste begrüßt. Nach einem kleinen Willkommenskaffee in einem Empfangszimmer, das wie ein altmodisch-großbürgerliches Wohnzimmer aussah, traten wir hinaus auf den Gang. Die alte Klausurtür vor uns stand weit geöffnet. Sr. Ottilie schloss sie, um mir die barocken Ölgemälde auf den Türflügeln zu zeigen: Maria Magdalena und Augustinus mit dem flammenden Herzen. Die Botschaft der beiden sei, wer hier eintrete, müsse sich bekehren. Sie öffnete die Tür wieder, und der Blick auf den langen Klostergang wurde frei. Vom kleinen Innenhof fiel Sonnenlicht auf die weißen Wände und die dunklen Fußbodenplatten. In einer Nische am anderen Ende des Ganges stand eine lebensgroße Figur des Dornengekrönten. Wir gingen in die andere Richtung zur Kapelle, in die wir nur einen kurzen Blick taten. Es war eine richtige kleine Klosterkirche in schlichtem Weiß, mit üppigem Blumenschmuck und moderner Ausstattung. Unter dem hohen Gewölbe, das eine sehr gute Akustik versprach, blickte eine überdimensionale romanische Muttergottes auf den schlichten Volksaltar herunter. Nachdem wir die Kapelle verließen, blieb mir bis zur Vesper gerade noch genug Zeit, mein Quartier zu beziehen.
Ich war in einem der Schwesternzimmer im zweiten Stock untergebracht, das von derselben Ästhetik geprägt war wie die meisten Räume im Mutterhaus, eine Mischung aus Bauernstube und Biedermeier. In dem circa zwölf Quadratmeter großen Raum fanden sich neben dem Bett mit Nachtkästchen ein Schrank, ein Tisch mit Stuhl und ein Waschbecken mit Boiler. An der Tür hing ein kleines Weihwasserbecken, an der Wand ein Kreuz und ein Marienbild. Auf dem Tisch standen ein kleines Blumenväschen und eine Karte. Daneben fand ich auf einem hellgrünen Zettel auch den Tagesablauf: um 6:15 die Messe, um 7:00 Angelus, Lesehore und Laudes, anschließend Frühstück. Um 12:00 Angelus, Rosenkranz und Mittagsgebet, anschließend Mittagessen, um 17:30 die Vesper und das Abendessen und um 19:45 Abendanbetung und Komplet. Bis auf die »Abendanbetung« kannte ich alles aus anderen Klöstern. Aber als ich dann meine erste Vesper in der Klosterkirche erlebte, die Vesper von Maria Himmelfahrt, war ich doch einigermaßen erstaunt. So hatte ich eine Vesper noch nie erlebt. Alleine schon der feierliche Einzug übertraf alle Erwartungen. Hinter dem Kreuzträger schritt ein großer schlanker Priester im goldenen Rauchmantel den Mittelgang entlang, ihm folgten circa sieben weitere in weißen Chormänteln und schließlich eine große Schar Schwestern, ebenfalls im weißen Chormantel, mit Schleier und Krone. Sobald sie ihre Plätze bezogen hatten, erklang ein feierlicher Gesang. Es schien unmöglich, sich seiner Wirkung zu entziehen. Nicht nur der Hymnus, sondern auch die Psalmen wurden mehrstimmig gesungen, im Wechsel zwischen Männer- und Frauenstimmen. Das hatte ich so noch nie erlebt. Das Magnificat wurde schließlich auf Latein angestimmt. Der feierliche gregorianische Ton erhob sich und erfüllte den von Lilien- und Weihrauchduft schweren Raum. Ich war verzaubert. Hiermit konnte sich keine Liturgie messen, die ich bisher erlebt hatte.
Am nächsten Morgen wurde ich in die Küche eingeladen, wo ich den Schwestern bei der Arbeit helfen durfte. Hier erlebte ich eine ähnliche Überraschung. Die für die Küche verantwortliche Schwester, eine strahlende, blonde Slowenin namens Sr. Ivana begrüßte mich, drückte mir eine Schürze in die Hand und teilte mir meine Arbeit zu. In keinem der Klöster, die ich bisher kennengelernt hatte, war ich so selbstverständlich in den Alltag der Kommunität eingebunden worden, und nirgendwo hatte ich so viele junge Schwestern gesehen. Die große Küche war voll von ihnen, und alle hatten gute Laune. Ich konnte mich dieser Stimmung nicht entziehen. Etwas in der Art, wie die Schwestern ihre Arbeit angingen, berührte mich. So fröhlich und tatkräftig muss es früher in den Klöstern zugegangen sein, die heute überaltert sind, dachte ich. Das hier ist das Original, das authentische Klosterleben. So fühlt sich das also an.
Am Samstagnachmittag fand das vielleicht folgenreichste Gespräch dieser Tage statt. Ich hatte Sr. Ottilie erzählt, dass meine Familie im September mit dem Bayerischen Pilgerbüro nach Rom fahren würde. Daraufhin organisierte sie sofort ein Gespräch mit Sr. Hildegard, die normalerweise in Rom im Einsatz war, sich aber in diesem Sommer aus gesundheitlichen Gründen einige Wochen im Mutterhaus aufhielt. Ich wunderte mich ein wenig. Was sollte Sr. Hildegard mir Wichtiges zu sagen haben? Jedenfalls schien sie eine Instanz zu sein, eine außergewöhnlich erfahrene Pilger-Führerin. Die Schwestern, denen ich beim Mittagessen erzählte, dass ich am Nachmittag Sr. Hildegard treffen würde, lobten sie über die Maßen. Als es soweit war, stiegen Sr. Ottilie und ich in den ersten Stock hinauf und betraten den »Kapitelsaal«, der später renoviert und zum Brüderrefektorium umfunktioniert wurde. Es war ein dunkler Raum, hauptsächlich wegen den langen Gardinen an den Fenstern. Das noble kleine Beistelltischchen und die geblümten Sesselchen verliehen ihm dieselbe Biedermeierästhetik, die fast alle Räume im Haus prägte. Das Parkett knarzte, als wir den Raum betraten. Sr. Hildegard war schon da. Sie hatte in einem der Sesselchen Platz genommen. Ihre dunkelbraune Strickjacke über dem karierten dunkelbraunen Rock schienen den Raum noch mehr in Dunkelheit zu hüllen, aus der nur ihr von kurzen dunklen Haaren umrahmtes Gesicht herausleuchtete. Sie trug einen Gips am Bein und machte im Sitzen eine angedeutete Verneigung, um mich sofort mit übertrieben freundlichen Worten zu begrüßen. Im Vergleich zu dem, was ich über sie gehört hatte, wirkte sie eher unscheinbar, und ich merkte bald, dass das Gespräch von vorneherein vor allem einen Zweck hatte. Beide Schwestern machten mir mit vereinten Kräften deutlich, dass meine Familie bei unserer Reise im September unbedingt die Gemeinschaft in Rom besuchen müsse. Es schien völlig unmöglich, diese Einladung auszuschlagen. Auf meine Bedenken hin hieß es, in jedem Fall müssten wir mindestens eine Führung ans Petrusgrab mitmachen. Ich war etwas beunruhigt, weil ich ja gar nicht absehen konnte, ob das möglich sein würde. Konnten wir uns so einfach vom Programm der Gruppe lösen? Wollten wir das? Wir kannten uns in Rom ja nicht aus. Wie sollte ich meine Eltern überzeugen? Wir verblieben dabei, dass wir telefonieren würden, wenn ich wieder daheim wäre. Sr. Ottilie würde mir dann die Nummer einer Sr. Annemarie geben, mit der könnte ich alles Weitere besprechen. Obwohl mir das noch merkwürdiger vorkam, war ich froh, die Sache wenigstens verschoben zu haben.
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