An die Führung durch die Nekropole erinnere ich mich kaum. Umso mehr erinnere ich mich aber an das, was hinterher geschah. Ohne dass es angekündigt worden wäre, wartete am Ende der Führung ein freundlicher und gutgelaunter Priester auf uns, ein Rheinländer mit rundem Gesicht und breitem Grinsen. Er mochte Mitte 30 sein und stellte sich als P. Christoph vor. Nachdem er ein paar scherzende Worte mit Sr. Teresa gewechselt hatte, bat er uns zu unserer großen Überraschung, mit ihm zu kommen. Er schleuste uns durch die Grotten von St. Peter, öffnete hier eine Absperrung und dort eine, bis wir schließlich wieder auf dem Petersplatz standen. Wir staunten nicht schlecht. Mit dem Auto fuhr er uns eine kleine Strecke in die sogenannte Piccola Casa. Sie war eines der beiden Häuser der Königsfamilie in Rom. Als wir das Haus betraten, kamen uns über die Treppe aus dem ersten Stock schon meine beiden kleinen Schwestern entgegen und zeigten uns stolz die Engelsflügelchen, die Sr. Fleur, eine liebenswerte ältere Belgierin, ihnen gebastelt hatte.
Das äußerst liebevoll eingerichtete, verwinkelte Häuschen hatte ein gewisses italienisches Flair. Dunkles Holz und Marmortreppen verliehen ihm einen edlen Touch. Die schiere Kleinheit seiner Maße ließ es unklösterlich wirken, ganz anders als das Kloster in Österreich. Ich war fasziniert. Sr. Annemarie hieß uns willkommen und führte uns durch ein schmuckes kleines Wohnzimmer in einen herrlichen Garten, eine Oase mitten in Rom. Unter einer Weinlaube stand schon ein Tisch mit gekühltem Holundersirup und Gebäck bereit. Von soviel Gastfreundschaft wurden wir beinahe sprachlos. Meine Eltern waren sichtlich beeindruckt. Meine Geschwister fühlten sich wohl. Die beiden Kleinen wurden von allen Seiten dafür gelobt, dass sie so brav gewesen waren. Als wir die Piccola Casa verließen, regnete es. P. Christoph brachte uns mit dem Auto zur nächsten U-Bahn-Station und erklärte uns, wie wir nach Anagnini kamen, der Station, an der wir unsere Gruppe wiedertreffen wollten, um mit dem Bus zurück in unser Quartier am Lago Albano zu fahren. Etwas nass aber beglückt saßen wir in der Metro.
Bitte um das rote Kreuzchen
Als wir einige Tage darauf wieder daheim waren, dauerte es nicht lange, bis Sr. Ottilie anrief. Sie wusste schon alles über unseren Besuch in der Piccola Casa und schien sehr erfreut darüber, wie gut ihr Plan funktioniert hatte. Nachdem wir ein paar Worte gewechselt hatten, fragte ich in möglichst belanglosem Ton nach dem roten Kreuzchen. Was müsste ich tun, um es zu bekommen? Sie antwortete genauso knapp, ich müsste nur einen formlosen Brief an Mutter Marozia schreiben und darum bitten. Zwar hatte ich Mutter Marozia, die »international Verantwortliche« der Schwestern der Königsfamilie, noch gar nicht getroffen. Aber sie war nun einmal die zuständige Person. Ich dachte gar nicht daran, dass ich abgelehnt werden könnte, und ich lag ganz richtig damit. Ungefähr eine Woche später erhielt ich die Antwort. Eine Karte, ein Blatt Papier und ein paar Zeilen. Ja, ich sollte das rote Kreuzchen bekommen, und zwar am 28. September im Rahmen einer Vesper im Mutterhaus. Dem Brief war eine Einladung beigelegt. »Die Liebe ist ihrem Wesen nach schenkend. Sie ist Hingabe«, stand darauf, ein Wort der Gründerin, die alle nur »Mutter« nannten. Es war die Einladung zu einer Chormantelfeier oder, gemäß dem Text der Einladung, zu einem »Heiligen Bündnis mit dem Herzen Jesu in jungfräulicher Liebe«. Am 29. September würden zwei junge Schwestern, eine Ungarin und eine Österreicherin, im Mutterhaus das Gelübde der Jungfräulichkeit ablegen und den weißen Chormantel mit Krone und Schleier erhalten. Als Hauptzelebrant wurde Kardinal Erdö aus Budapest angekündigt. Diese Feier interessierte mich natürlich.
Diesmal fuhr ich mit dem Zug und wurde am Bahnhof von einer Schwester abgeholt. Sobald ich das Haus betrat, spürte ich, dass das ganze Kloster in geschäftiger Vorbereitungslaune war. An der Pforte standen wartend und plaudernd Gruppen von Priestern und Gästen. Schwestern in Schürze eilten durch die langen Gänge, mit Blumen, Essen oder Putzeimern in den Händen. Das Pfortentelefon läutete in einem fort. Bei den Mahlzeiten im großen Refektorium und beim Gebet in der Kapelle fielen mir viele unbekannte Gesichter auf. Das Haus war offensichtlich voller Gäste. Ich registrierte insbesondere einige Patres und Schwestern, die ich bei meinem letzten Besuch nicht gesehen hatte. Obwohl die Schwestern alle Hände voll zu tun hatten, wurde eine liebe kleine Slowenin namens Sr. Ana gewissermaßen zu meiner Betreuung abgestellt. Sie war vom Willkommenskaffee bis zum Abschied für mich da und fast immer an meiner Seite. So fühlte ich mich weniger verloren unter den vielen mir unbekannten Gesichtern. Sr. Ottilie würde nämlich erst später ankommen.
Am Mittag des 28. September sollte ich mit P. Rektor, dem International Verantwortlichen der Priestergemeinschaft der Königsfamilie, zu Mittag essen. Nur er und ich. Ich war nervös, während ich im sogenannten Konferenzzimmer wartete, in dem für uns gedeckt war. Der Raum war schmal und lang, an seinem Tisch mit dem obligatorischen Blumenväschen und der Spruchkarte hätten bis zu 20 Personen Platz finden können. Immer wieder hörte ich Schritte auf dem Gang, die meine Anspannung steigerten, bis sich endlich die alte dunkle Holztür zu meiner Rechten öffnete und P. Rektor den Raum betrat. Der riesige Mann mit den dunklen Haaren und dem großen Kopf über dem schwarzen Kollarhemd begrüßte mich freundlich. Er stellte sich hinter seinen Stuhl, sprach das Tischgebet und bat mich Platz zu nehmen, während er mir die Suppe in den Teller schöpfte. Wenn er mir eine Frage gestellt hatte, betrachtete er mich aufmerksam, fast lauernd, wobei er seinen großen Kopf, als wäre er zu schwer, nach vorne senkte, sodass er leicht nach oben blicken musste, um mir in die Augen zu sehen. Ich fühlte mich, als säße ich in einer Prüfung. Nachdem das eine Weile so gegangen war, sagte er schließlich mit übertrieben lauter Stimme, er sei erfreut, dass ich das rote Kreuzchen empfangen wolle. Besonders freue es ihn, dass ich diesen Schritt in jungen Jahren gehen wolle und dem Herrn »nicht erst mein graues Haar schenke«. Als wir zum Nachtisch übergingen, kündigte er an, dass er an diesem Nachmittag einen Vortrag für junge Frauen und Mädchen halten werde, die zur morgigen Feier eingeladen waren. Es würde ihn freuen, wenn ich auch dabei wäre. Um 17:30 sei dann die Vesper, bei der ich das rote Kreuzchen erhalten solle. Er selbst werde der kleinen Zeremonie vorstehen. Ich fühlte mich geehrt.
Sr. Ana begleitete mich zum Vortrag ins sogenannte Pilgerheim, einen etwas dunklen und kühlen Raum auf der anderen Seite des großen Innenhofes, der mit seinen Butzenscheibenfenstern und dem Gewölbe wie eine Stube in einem bayerischen Gasthof wirkte. Außer mir saßen circa sieben schüchterne Mädchen um einen der Tische. Sie mochten etwas jünger sein als ich. P. Rektor kam herein, setzte sich an die Stirnseite des Tisches und sprach ein kurzes Gebet, bevor er in etwas grundschullehrerhafter Manier zu sprechen begann. Es ging vor allem um das Thema Berufung. Wie ein junger Mann um ein Mädchen wirbt, so werbe auch Jesus um eine junge Frau, die er erwählt hat. Er klopfe an ihr Herz und erwarte sehnsüchtig eine Antwort. Ich war etwas peinlich berührt von der altmodischen Sprache, die P. Rektor mit diesen Worten offenbarte. Er hatte wohl keine Ahnung davon, wie das »Liebeswerben« unter Teenagern im 21. Jahrhundert tatsächlich aussah. Dennoch gab ich ihm recht. Auch ich betrachtete eine Berufung als eine Liebesbeziehung zu Gott und konnte dem Gedanken des »Liebeswerbens« durchaus etwas abgewinnen. Ich wusste noch nicht, dass P. Rektor nichts lieber tat, als jungen Mädchen Vorträge über das Liebeswerben Gottes zu halten. Im Folgenden ging er auf Fragen ein, die er selbst formulierte: Woran erkennt man, dass man eine Berufung hat? Die Antwort: Unter anderem daran, dass andere Leute, besonders Priester, einen darauf ansprechen. Denn diese hätten oft ein besseres Gespür dafür als man selbst. Wenn ein Priester zu einem jungen Mädchen sage, es solle einmal darüber nachdenken, ob es nicht eine Berufung zum gottgeweihten Leben habe, dann sei das ein starkes Zeichen dafür, dass es tatsächlich eine Berufung habe. Ich wunderte mich ein wenig über diese Antwort, aber erst viel später beobachtete ich, dass die Königsfamilie mit dieser Methode versuchte, »Berufungen« regelrecht zu produzieren. Sie suchten selbst aus, wen sie ansprachen, und wer einmal angesprochen worden war, hatte damit praktisch schon eine Berufung.
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