UNTERLIEBT ♥ Ich habe Angst vor Ihnen
Ich denke und schreibe, deshalb bin ich. Sie nehmen sich, was Sie brauchen. Einverstanden? Das ist ein faires Abkommen, finde ich. Ich bin ja in der schwächeren Position. Ich oute mich hier ja, während Sie in Ihrer Anonymität den Daumen nach oben oder nach unten richten können. Anonymität macht Menschen anders, mit einer Tendenz zu gefährlich. Die Aktiengesellschaft heißt ja im Französischen so beeindruckend ehrlich société anonyme.
Jetzt hab ich mir selbst Angst gemacht. Vor Ihnen. Sie sind irgendwo da draußen und haben die Macht, mir wohl gesonnen zu sein oder mich zu zerstören. Sie können über dieses Buch in den höchsten Tönen schwärmen oder es vollkommen zerreißen. Ob Sie das tun, in welcher Intensität und auf welche Art, hängt sehr von Ihrem Selbstwert ab. Wahrscheinlich mehr als von der Qualität meiner Gedanken und meiner Art zu schreiben. Puhhh. Unter Angst denkt es sich so schlecht. Da will ich Ihnen dann gefallen, damit Sie mir nichts Böses tun. Irgendwie bin ich ja von Ihrer Anerkennung abhängig. Sie kennen das sicher aus Ihrem Alltag. Menschen, die sich ständig anbiedern, andere anschleimen. Manchmal aus Berechnung, meistens aus Angst. Ich mag das nicht. Ich mache das auch bei Ihnen nicht. Soll ich Ihnen vielleicht schreiben, dass Sie mein Traumleser oder meine Wunschleserin sind? Dass Sie tolle Augen, ein bezauberndes Lächeln und eine attraktive Ausstrahlung haben und mich total inspirieren? Dass ich mein ganzes Leben nur auf Sie gewartet habe? Das Sie ein einzigartiges Original sind? Also ehrlich, wenn das bei Ihnen funktioniert und Sie sich darüber freuen, dann haben Sie schon ein wirklich großes Selbstwert- und Selbstliebeproblem. Die natürlichere und angemessenere Reaktion wäre, dass Sie einfach angeekelt sind, mich einen oberflächlichen und penetranten Psychofuzzi schimpfen und das Buch im Altpapier entsorgen.
Da sind wir also. Sie mit Ihrer Macht der Anonymität und ich mit meiner Angst vor Ihnen. So geht das nicht. Da kann ich nicht schreiben. Ich brauche ein konkretes Vis-a-Vis. Ein möglichst nettes, das mich hie und da anlächelt und mir Mut macht. Ich könnte mich jetzt in die Marktforschung flüchten und Sie in ein Zielgruppenprofil oder einen Cluster pressen. Der durchschnittliche Leser ist weiblich, über 45, einmal geschieden, bereits mit Therapieerfahrung und überfordert durch den eigenen Perfektionismus. Sie liest auch die folgenden Bücher xy. Gibt jährlich 86 Euro für Bücher und 198 Euro für Frauenmagazine aus. Oder die Kernzielgruppe sind Männer zwischen 38 und 52, in gehobenen Führungspositionen mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 68.000 Euro. Verheiratet, 1,47-facher Vater mit einem außerehelichen Verhältnis. In der Midlifecrisis auf der Suche nach dem Selbst und Anzeichen von Burn Out. Ich mag so etwas nicht. Sie wohl auch nicht. Obwohl wir beide ständig in solche Cluster und Zielgruppendefinitionen gepresst werden. Wir machen das hier aber nicht. Mir ist das zu wenig konkret, zu wenig menschlich und zu wenig individuell. Ein bisschen würdelos und auf jeden Fall zu wenig wertschätzend. Außerdem trifft diese Merkmalkonsolidierung auf Sie wahrscheinlich nicht zu. Sie sind dann eine statische Abweichung. Mit so etwas unterhalte ich mich auch eher ungern. Das ist ja auch kein guter Name: Statische Abweichung?
UNTERLIEBT ♥ Ich und meine virtuellen Leser
Wir lösen das anders. Sie bleiben ein mir völlig unbekannter, realer, aber anonymer Mensch. Meine Leserin, mein Leser, über die ich mich freue. Ich bleibe beim Sie und rede Sie nicht per Du an, so als ob wir langjährige Freunde wären oder Sie Skilehrer oder Yogalehrerin und ich Ihr Schüler. Lassen Sie uns Distanz wahren. Dafür erfinde ich mir fünf virtuelle Leser. Mit denen führe ich einen Dialog, wenn mir danach ist. Der Held des Buches bleibe aber ich.
Also, ich stelle Ihnen vor.
Den 64-jährigen Rudi. Ein lieber Herr. Rudi wohnt in Lausanne. Eine schöne Stadt am Genfer See, leider etwas teuer. Zumindest für Nichtschweizer. Rudi, mit 64 liest du noch solche Bücher? Der Titel hat dich angesprochen? Ach so. Dafür haben wir ihn uns ja auch ausgedacht. Wie bitte? Du hast Probleme, deinen Sohn zu umarmen. Das ist dir irgendwie peinlich. Ja, das kann ich mir gut vorstellen, dass es das ist. Dein Vater hat dich auch nie umarmt? Dein Vater war selten daheim? Rudi, da bist du nicht alleine. Also ohne Vater zu Hause warst du es schon irgendwie. Ich meine, du bist nicht der einzige in unserer Gesellschaft, der eine ungestillte Sehnsucht nach seinem Vater hat. In unserer Gesellschaft herrscht nun mal irgendwie ein Mangel an Vätern. Seit über hundert Jahren.
In Hannover wohnt die 38-jährige Patrizia. Achtung, Patrizia. Unser Gedankenaustausch kann dein Leben wirklich verändern. Das kannst genau genommen ja nur du, aber unsere kurze Lese-Affäre wird dir genug Impulse geben, die dich zur Änderung veranlassen könnten. Wenn du das willst. 35 Paar Schuhe, vier Laufmeter Gewand, nur die feinsten Marken, edle Dessous, schnuckelige 72 Quadratmeter Designerwohnung mit Dachterrasse, Shopping-Wochenenden in Mailand, Paris oder Rom, Urlaub auf den Malediven oder den Seychellen. Und doch fühlt sich das alles irgendwie nicht ganz richtig an, so ein bisschen leer. Ist es so? Hmmm, manchmal verfährt man sich in seinem Leben, ohne so richtig zu wissen, wieso. Vielleicht findest du hier ja Antworten, Ideen, Gedanken. Dein unterdimensionierter Rassehund wird dich schon irgendwie trösten, wenn du jemanden brauchst, der dich lieb hat. Vielleicht verwandelt er sich ja sogar einmal in einen Prinzen. Aber das tun meines Wissens nach nur Frösche. Patrizia, ich hab Menschen kennengelernt, die waren in ihrem eigenen Leben Geisterfahrer. Das bist du aber sicher nicht.
In Wien erfinde ich mir den 22-jährigen Peter. Der sitzt gerade am Klo. Servus Peter. Das Klo ist deine Bibliothek. Da kannst du in Ruhe lesen. Geht mir ähnlich. Aber bitte verhalte dich geräuschneutral. Ist der Leistungsdruck bei dir schon groß genug? Hast du endlich deinen befristeten Werkvertrag für 20 Stunden bekommen? Du weißt nicht, wie du in dieses System einsteigen kannst, das du eigentlich gar nicht willst? Willkommen bei uns. Ich glaub, du wirst dir einiges rauslesen können aus diesem Buch. Trost und Zuspruch kann ja auch eine Form der Liebe sein. Vielleicht denkst du dann ja in so 30, 40 Jahren an unsere flüchtige Bekanntschaft zurück und schickst mir ein Lächeln. Vielleicht geht es aber auch schon früher, weil in 30, 40 Jahren werde ich ziemlich sicher schon nicht mehr zurücklächeln können.
Jetzt erfinde ich mir etwas für meine Seele. Die 44-jährige Claudia aus Graz. Ich mag ihre blonde Mähne, die strahlenden Augen und ihr Lächeln. Das ist wie ein Sonnenaufgang. Vielleicht kennen wir einander von früher. Warst du damals im Oktober 1998 bei meinem Workshop dabei? Ja?! Damals warst du 26. Wie ist es dir ergangen? Das Leben hat dich schwer geprüft. Du bist Witwe. Trotz all dieser Niederlagen und Schmerzen glaubst du noch ans Leben. Schön. Wie hast du es geschafft, dir so viel Lebensfreude zu bewahren? Bewahren ist vielleicht der falsche Ausdruck. Du baust sie immer wieder von neuem auf, diese Lebensfreude. Und deine Selbstliebe. Das ist einfach toll. Von dir können wir sicher einiges lernen. Wenn ich es brauche, komme ich auf dich zurück.
Jetzt bastle ich mir ein Klischee. Das gibt es aber wirklich. Ich treffe dieses Klischee in meiner Arbeit sehr oft. Nennen wir das Klischee Rainer. Rainer, du auch da. Das lässt dein Terminkalender zu? Rainer, du bist in Nürnberg, richtig? Jetzt gerade nicht? Jetzt bist du in Frankfurt am Flughafen und hast die Nase voll vom E-Mail-Checken und deshalb bist du zu uns geflüchtet. Genau genommen in deinen Kindle. Herzlich willkommen. 180.000 Jahresgage, plus Prämie. Gerade einen netten Personalabbau durchgezogen, ein paar hundert Mitarbeiter freigesetzt. Echte Chancen auf den CEO für CEE, vielleicht bekommst du sogar USA und Canada. Das ist doch eine starke Erfolgsbilanz für jemanden mit 43. An Geld und Status kann es dir ja wohl nicht mangeln. Was machst du also hier in unserem Kreis? Was suchst du da bei uns? Woran mangelt es dir? Außer an der Zeit, die du hier verschwendest. Rainer, kann es sein, dass auch du dich unterliebt fühlst? Rainer, dich bau ich mir als meinen rationalen und kritischen Widerpart auf, okay? Wir zwei werden uns ein kleines Duell liefern. Aber immer respektvoll und bis zum Ende dieses Buches wachsen wir zusammen. Irgendwie mag ich dich ja jetzt schon.
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