FREUND • »BLEIB SCHÖN SITZEN!«
EUGEN FREUND
»Bleib schön sitzen!«
Erlebnisse aus den ersten siebzig Jahren
Die Herausgabe dieses Buches erfolgte mit freundlicher Unterstützung des Landes Kärnten.
KLAGENFURT/CELOVEC · WIEN · LJUBLJANA · BERLIN
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Josef G. Pichler
ISBN 978-3-99029-455-0 (Print Ausgabe)
ISBN 978-3-99047-112-3 (Epub)
Für Carla und Matthias
Als Kind in St. Kanzian
Sommer am Klopeiner See
Begegnung mit Friedensreich Hundertwasser
Auf Visiten mit dem Vater
Ein Arzt ohne Krankenkassa
Die lieben Verwandten kommen
Politisches Erwachen
Die deutschen Großeltern
Die Wiener Großeltern
Der deutsche Großvater
Nach dem Krieg
Die Jugendzeit
Ferialarbeit
Briefwechsel
Der Sturm auf die Ortstafein
Fotogalerie
Der Anfang im ORF
Die Galerie meiner Mutter
Im Außenministerium
Zu Besuch bei Yoko Ono
Der Bundespräsident und das Kriegsschiff
Zurück in den ORF
Die großen Umwälzungen
Wieder in den USA
Neue Rollen
Nachwort
U-Boot – das ist die gemeinsame Klammer, die diese Familiengeschichte verbindet. Der eine Großvater war jahrelang auf einem U-Boot unterwegs, der andere Großvater hatte – noch länger – als U-Boot in Wien ge- und überlebt. Der eine im Ersten Weltkrieg, der andere im Zweiten. Der eine als strenger deutsch-nationaler Maschinenbauingenieur, der andere als liberaler Richter, Sohn einer jüdischen Familie aus Prag. Und die Tochter des einen begegnet dann – das Tausendjährige Reich nähert sich bald seinem Ende – in Wien dem Sohn des anderen. Sie gründen eine Familie, ziehen weg aus der Kunst-, Kultur- und intellektuellen Metropole nach St. Kanzian in Südkärnten. Und da beginnen meine Erinnerungen. An die Volksschule, in der Wohnung und Ordination meiner Eltern untergebracht waren; an den Maler Hundertwasser, für den ich als Vierjähriger still sitzen musste; an den beschwerlichen Fußweg zum Bahnhof, an die Zugfahrt, bei der ich in der Gepäckablage über den Sitzen landete; wie sich der Fremdenverkehr am Klopeiner See rasant entwickelte; an die politischen Diskussionen im Gymnasium; an die Briefe von Gerd Bacher und Fred Sinowatz in den 1970er Jahren; an den »Ortstafelkonflikt«; an eine Verfolgungsjagd in New York; an die nicht enden wollende »Waldheim-Affäre«; und an viele andere herausragende Ereignisse. Es ist ein zeithistorischer Rückblick auf vieles, an das sich auch so mancher Leser, manche Leserin erinnern und mit dem er/sie sich auch identifizieren können wird.
»Vati, schnell, das Auto lollt!« (Wie soll jemand, der noch kein rollendes »r« aussprechen kann, anders über ein rollendes Fahrzeug sprechen?)
Ganz atemlos kommt der kleine Bub in die Ordination gerannt. Fünf Stufen muss er mit seinen kurzen Beinen erklimmen, dann noch eine, danach zwei lange Gänge, dann noch durchs Wohnzimmer zum Arbeitsplatz des Arztes. Doch der Vater ist nicht interessiert. Er sitzt an seinem Schreibtisch, Marke Gründerzeit, mit einem kleinen Turm, der rechts von der Arbeitsplatte nach oben ragt. In einem kleinen Türchen steckt ein Schlüssel, an der Kette daran hängen zwei weitere Schlüssel. Der Herr Doktor sitzt auf einem hölzernen Sessel, die Sitzfläche und die Rückenlehne sind aus gealtertem Leder. Es knarrt, als er sich zum Buben hinüberdreht. Sein schwarzes, glattes Haar ist streng gescheitelt, der Schnauzer korrekt rasiert, die grauen Augen blicken ernst durch die Brille:
»Siehst du nicht, dass ich eine Besprechung habe.«
Neben ihm sitzt eine Dame, vor ihm am Schreibtisch liegt ein Stapel Medikamente. Weil ihm ganz offensichtlich keine Zeit für Argumente gelassen wird (oder weil er noch keine wirklich formulieren kann), läuft der Kleine enttäuscht wieder den Weg zurück: durch die zwei Gänge, dann eine Stufe, über die steinerne Brüstung kann er noch nicht blicken, also muss er wieder ganz hinunter: Vor allem die Stufen, die zum Eingang ins Haus führen, machen ihm zu schaffen. Als er, barfuß wie er ist, im Hof ankommt, ist das Auto, ein VW Kastenwagen, Kennzeichen G 4071, wieder ein paar Meter weiter leicht bergab gerollt, an den vier Gärten vorbei – jeder Hausbewohner hatte ein eigenes, abgeteiltes Stück zur Verfügung: mit Bohnen, Tomaten, Kartoffeln, Salat, Kräutern. Nur ganz langsam bewegt sich der Wagen, jeder Stein ist ein Hindernis, die Neigung ist gering, doch er macht keine Anstalten stehen zu bleiben. Also dreht sich der Bub wieder um, und läuft – über die Stiegen auf allen vieren – zurück ins Haus.
»Vati, komm doch, das Auto lollt noch immer!«
»Lass mich, ich hab’ zu tun.«
Doch Frau Bisenius, die Dame neben ihm, sie ist Vertreterin für pharmazeutische Produkte, schöpft Verdacht. Sie weiß, als sie ankam, war sie die Einzige mit einem Fahrzeug im Hof. Sie geht zum Fenster, blickt hinaus: Dort, wo sie ihren blauen VW abgestellt hat, ist nun gähnende Leere.
»Herr Doktor«, sagt sie, »wir sollten doch nachsehen!«
Der Bub läuft ihnen hinterher. Am Haustor angekommen, sehen sie gleich, dass sie zu spät dran sind. Obwohl – der Wagen rollt nicht mehr. Er ist neben der Holzhütte, die den Hof nach Norden abgrenzt, zum Stehen gekommen. Nicht etwa, weil er keinen Schwung mehr hatte, sondern weil er nun halb am Abgrund, über einer Betonmauer hängt, die Vorderräder in der Luft, darunter – das weiß Frau Bisenius freilich nicht – ist eine Senkgrube, mit einem Betondeckel einigermaßen gut abgesichert.
»Man hätte doch auf den Buben hören sollen«, sagt der Herr Doktor, »zum Glück ist nicht mehr passiert.«
Irgendwann kommt ein Traktor und zieht den Wagen mit einem Seil rücklings aus seiner Misere, alle vier Räder stehen wieder auf festem Boden.
Damals war ich noch keine drei Jahre alt, meine Leidenschaft für alles, was mit Autos zu tun hatte, war gerade erst im Entstehen. Das mag auch daran gelegen haben, dass zu der Zeit und in der Gegend, wo ich aufwuchs, Autos noch ausgesprochen selten waren – wenn man davon absieht, dass im Hof, eher etwas versteckt hinter dem Haus, ein total verrosteter, ehemals weiß lackierter Rot-Kreuz-Wagen stand, in dem wir gelegentlich am Lenkrad drehten und uns nicht einmal vom stark modrigen Geruch der immer wieder nass gewordenen Sitze davon abhalten ließen, Rettungsfahrer zu simulieren.
Nur sechs Wochen nach meiner Geburt hatten meine Eltern Wien verlassen und waren nach St. Kanzian am Klopeiner See gezogen. (Aus dem Notizbuch meines Vaters vom 26. Juni 1951: Nach knapp über 25 Jahren aus der Trauttmannsdorffgasse ausgezogen. Um 7.15 Uhr mit Inge, den Kindern und Inges Mutter mit dem Zug nach Klagenfurt – eigenes Coupe – von dort Bus nach Kühnsdorf … über Nacht bei Holzer .) Dort war eine Stelle als Gemeindearzt ausgeschrieben, mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass meine Eltern mit den zwei Kindern auch eine Wohnung zur Verfügung gestellt bekamen. Nicht sofort, denn erst mussten wir aufs Mobiliar warten. Die erste Nacht verbrachten wir bei »Holzer«, genauer gesagt im Hotel Amerika-Holzer. Meine Erinnerung ist zwar verständlicherweise getrübt, doch ich kann mich wieder auf die Eintragungen meines Vaters in einen kleinen Taschenkalender stützen. Die Besitzer waren zwei Damen, Mutter und Tochter, deren Mann bzw. Vater wenige Monate vor unserer Ankunft verstorben war. Das »Amerika-Holzer« war damals das erste Haus am Platz (ist es übrigens bis heute), doch zu teuer für einen längeren Aufenthalt. Also zogen meine Eltern am nächsten Tag mit Sack und Pack ins Gasthaus Wank nach St. Kanzian.
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