Berlin, den 9. August 2012, dem 70. Todestag Edith Steins.
I. Der Kreuzestod Christi – der Anfang der Vollendung
Dass es seit längerem keine geschichtstheologische Deutung des Zeitgeschehens gibt, wie sie ein Salvian von Marseille im 5. Jahrhundert in De gubernatione Dei vorlegte, ist verständlich, da mit der Christianisierung der Völker Europas seit dem frühen Mittelalter die Geschichte der Kirche – trotz aller Spannungen und Konflikte – mit ihrer (profanen) Geschichte eng verknüpft war. Waren doch etliche Herrscher, wie das Königspaar Heinrich und Kunigunde, wie die Königin Mathilde, wie Stephan I. von Ungarn oder Ludwig IX. von Frankreich Heilige; einige wie Václav von Böhmen oder die skandinavischen Könige Erik und Knut sogar Märtyrer. Noch enger scheint das Band von profaner Herrschaft und Kirche seit dem Zeitalter der Reformation geknüpft, als Fürsten oder Könige zugleich als geistliches Oberhaupt ihrer Landeskirche figurierten. Entsprechend eng auch die Bindung im katholischen Raum, zu denken ist etwa an Reinhold Schneiders literarisches Porträt Philipp der Zweite. Oder Religion und Macht [Leipzig 1931]. Erst von der Französischen Revolution an zeichnet sich ein Bruch ab, wenngleich der Prozess der Säkularisierung bis ins 20. Jahrhundert hinein in erster Linie die geistigen und politischen Eliten erfasste, während die Volkskirchen, obschon eher in der Defensive, zumindest im ländlichen Raum weitgehend intakt blieben, ja in einigen Ländern, wie etwa Mexiko, den überlieferten Glauben erfolgreich gegen antichristliche Machthaber verteidigten.
Erst mit dem Ersten Weltkrieg, dem amerikanischen Historiker und Diplomaten George F. Kennan, der 2005 im Alter von 101 Jahren starb, zufolge »die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, wird mit der Selbstzerfleischung der christlichen Völker den apokalyptischen Mächten der Moderne Tür und Tor geöffnet. Doch selbst hier noch keine Scheidung, kein radikaler Bruch angesichts der Volksverbundenheit der Kirchen; bezeichnenderweise ist in der eingangs erwähnten geschichtstheologischen Untersuchung Walter Künneths Der große Abfall im Untertitel von »der Begegnung [!] zwischen Nationalsozialismus und Christentum« die Rede, obschon es sich in Wahrheit um eine handfeste Konfrontation handelte, die etlichen christlichen Glaubenszeugen, wie einem Dietrich Bonhoeffer noch in den letzten Kriegstagen, das Leben kostete. Und auch das eingangs zitierte Werk des katholischen Theologen Georg Feuerer Unsere Kirche im Kommen spricht im Untertitel von einer »Begegnung von Jetztzeit und Endzeit«, während doch aus christlicher Sicht Jetztzeit und Endzeit seit Christus sich nicht bloß »begegnen«, sondern einander entsprechen.
Denn keineswegs erst im allgemeinen Zeitgeschehen, im Verlauf der Geschichte, sondern im Christusgeschehen selbst zeichnet sich die Konstellation von messianischer Jetztzeit und eschatologischer Endzeit ab. So nach dem Matthäusevangelium beim Verhör Jesu vor dem Hohen Rat, wo es zunächst angesichts der verschiedenen Anschuldigungen heißt: »Jesus aber schwieg. Darauf sagte der Hohepriester zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist du der Messias, der Sohn Gottes? Jesus antwortete: Du hast es gesagt. Doch ich erkläre euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.« (Mt 26,63 f. – Es überrascht, dass die Parallelstelle Mk 14,62 von den Herausgebern der Einheitsübersetzung nicht angegeben ist; vice versa nicht dort auf Mt 26,64 verwiesen ist, sondern jeweils auf Mk 13,26.) In Anlehnung an zwei Schriftworte aus Dan 7,13 und Ps 110,1 bekennt der seinem Todesurteil und seiner Kreuzerhöhung entgegensehende Christus nicht nur seine Messianität, sondern in einem Atemzug seine eschatologische Herrschaft, die mit seinem Todesurteil öffentlich gemacht wird. War sie bislang über seinen Jüngerkreis hinaus weitgehend verschwiegen, lediglich ausnahmsweise im persönlichen Gespräch – ob mit der Samariterin oder mit Martha und Maria, den Schwestern des Lazarus – bekannt, so ist mit dem Eingeständnis seiner Messianität nicht allein sein Todesurteil wegen Gotteslästerung gesprochen: »Da zerriss der Hohepriester sein Gewand und rief: Er hat Gott gelästert! Wozu brauchen wir noch Zeugen? Jetzt habt ihr die Gotteslästerung selbst gehört. Was ist eure Meinung? Sie antworteten: Er ist schuldig.« (Mt 26,65 f.) Was in diesem Zusammenhang leicht übersehen wird, ist der theologisch höchst bedeutsame Sachverhalt, dass hier , also »von jetzt an«, d. h. im Augenblick seiner äußersten Erniedrigung und Demütigung, seine endzeitliche Herrschaft ihren Anfang nimmt. Heißt es doch nach dem allgemeinen Schuldspruch: »Dann spuckten sie ihm ins Gesicht und schlugen ihn. Andere ohrfeigten ihn und riefen: Messias, du bist doch ein Prophet! Sag uns, wer hat dich geschlagen?« Doch nicht genug, denn anschließend folgt die tiefste aller Demütigungen: die Verleugnung durch Petrus (Mt 26,69–75), des Ersten seiner Jünger, der ihn vordem als Messias bekannt hat (vgl. Mt 16,13–20).
Nirgendwo wird der Zusammenhang von Jesu Messianität und seiner Hoheit als Menschensohn, zwischen seinem Kreuzestod und seiner eschatologischen Herrschaft so manifest wie hier, nach Mt 26,64 bzw. Mk 14,62. Es wird offenkundig, dass diese nicht etwa irgendwann am Ende aller Zeiten einsetzt als vielmehr mit dem Werk unserer Erlösung ihren Anfang nimmt. Theologisch gesprochen: Erlösung und Vollendung, Christologie/Soteriologie und Eschatologie gehören aufs engste zusammen: Das Kommen des Menschensohns, das Kommen des Reiches Gottes vollzieht sich nicht irgendwann nach seiner ersten Ankunft, sondern ist mit seiner ersten Ankunft gegeben. Mit ihrer Vollendung im Kreuzestod nimmt die Vollendung der Zeit ihren Anfang – nicht erst mit der Wiederkunft Christi.
Daher ist auch im Grunde genommen nicht ganz zutreffend die Rede von einer »eigentümlichen Dialektik der christlichen Eschatologie, wonach das messianische Reich zwar schon gekommen ist, aber doch erst in der zweiten Ankunft Christi seine Vollendung erfahren wird« – so Erik Peterson, dem wir die Wiederentdeckung der christlichen Eschatologie verdanken, in seinem Spätwerk Frühkirche, Judentum, Gnosis [Darmstadt 1982, 59; Erstausg.: Freiburg i. Br. 1959]. Gewiss wird das messianische Reich, das mit Christus schon gekommen ist, bei seiner zweiten Ankunft seine Vollendung erfahren. Nur setzt der Prozess der Vollendung nicht erst bei seinem zweiten Kommen ein, sondern nimmt seinen Anfang im Prozess gegen Jesus Christus, der vor dem Hohen Rat eingeleitet wird und – nach der Episode seiner Verspottung und der Verleugnung durch Petrus – mit der Auslieferung an Pilatus und dessen richterlichen Schuldspruch endet (vgl. Mt 27,26). Es folgen die Verspottung durch die (heidnischen) Soldaten sowie die Kreuzigung und der Tod Jesu – gleichsam das Ende der ersten Ankunft Jesu und der Anfang seiner eschatologischen Herrschaft, die vom Kreuz ihren Ausgang nimmt. Denn nicht erst am Ende der Zeiten, sondern vom Kreuz Christi aus erscheinen die Mächte dieser Weltzeit als Gerichtete – vorab der Hohe Rat und das Imperium Romanum, bis heute der Inbegriff aller Weltmacht. Deshalb kann mit Feuerer nur insofern davon die Rede sein, dass Unsere Kirche im Kommen ist, weil in Christus bereits das Reich Gottes gekommen und die Jetztzeit zur Endzeit geworden ist. Und deshalb vollzieht sich das »Kommen der Kirche« als Vorausbotin des mit Macht kommenden Gottesreiches unter dem Zeichen des Kreuzes [was übrigens der frühe Peterson in seiner Auslegung des ersten Korintherbriefes zutreffend beschrieben hat, insofern er die Parusie Christi als Apokalypsis, als Enthüllung, im Gegensatz zu seiner ersten Ankunft fasst, die im Mysterium vor sich ging; vgl. ebd. 397] bzw. des »geschlachteten Lammes«, das im Blutzeugnis der christlichen Märtyrer seine Entsprechung findet (vgl. Offb 12,11: »Denn sie haben ihn [den »Ankläger unserer Brüder« = Satan] besiegt durch das Blut des Lammes / und durch ihr Wort und Zeugnis; / sie hielten ihr Leben nicht fest, / bis hinein in den Tod«). Christi zweite Ankunft bildet gewissermaßen den Schlusspunkt jenes Prozesses, der von seiner Verurteilung ausgeht – nun aber um am Jüngsten Tag seinerseits den Mächten dieses Äons, dieser Weltzeit, das Urteil zu sprechen. Alle Geschichte nach Christus gleicht daher einem Prozess, dessen Urteil bis zum Jüngsten Tag aussteht .
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