Keine Naherwartung mehr
Daran, dass Lukas die Naherwartung, nicht aber die Parusiehoffnung überhaupt, aufgibt, kann kein Zweifel bestehen, wenn auch einzelne Worte mit Naherwartung noch im Evangelium zu finden sind (z. B. 21,32). Wie sehr die Naherwartung aus dem beherrschenden Zentrum, das sie bei Markus noch einnahm, verschwunden ist, vermag schon die Tatsache zu verdeutlichen, dass Mk 1,15 als Zusammenfassung der Predigt Jesu bei Lukas keine Parallele hat und dass in der in vieler Hinsicht für die theologische Sicht des Jesusphänomens typischen Antrittspredigt Jesu in Nazareth (4,16–30) ebenfalls von der Naherwartung nicht die Rede ist (vgl. auch die Änderung von Mk 9,1 in Lk 9,27 und dazu die Kommentare).
„Stetsbereitschaft“
Lukas reagiert damit auf die sich dehnende Zeit bis zur Parusie (vgl. 21,9.12), betont stattdessen die Mahnungen zur Wachsamkeit und fordert die „Stetsbereitschaft“ (21,34–36) für die Wiederkunft des Herrn. Dementsprechend treten die universalen Momente der Endvollendung zurück und die Vollendung des Einzelnen im Sterben wird hervorgehoben (vgl. Lk 16,19–31; 21,19; 23,43).
9.5 Israel und die Heilsgeschichte
Geschichte nach Gottes Plan
Die ganze Heilsgeschichte aber, die Zeit Israels, das Jesusgeschehen und die Entwicklung der Kirche bis hin zur Parusie richten sich nach Gottes Plan, wie Lukas mit Hilfe verschiedener Motive (Gottes Ratschluss, Gottes Willen, Gottes Bestimmung, das göttliche „Muss“) zu betonen nicht müde wird. Auch Jesus ist diesem göttlichen Willen unterworfen und stellt sich unter diesen Willen, indem er z. B. die Schrift erfüllt. Denn der Gedanke der Schrifterfüllung dient ebenfalls der Darstellung des göttlichen Heilsplans, z. B. wenn Lukas Jesus sagen lässt: „Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf; dort wird sich alles erfüllen, was bei den Propheten über den Menschensohn steht“ (18,31diffMk; vgl. auch 22,37: „Ich sage euch: An mir muss sich das Schriftwort erfüllen: ‚Er wurde zu den Verbrechern gerechnet.‘ Denn alles, was über mich gesagt ist, geht in Erfüllung“ oder 24,25–27.44). Jesus kennt den Willen Gottes und ist in der Lage, diesen zu erfüllen, weil er in besonderer und bleibender Weise mit dem Geist erfüllt ist, der schon seine Geburt veranlasst hat (1,35) und der bei der Taufe durch Johannes in leiblicher Gestalt auf ihn gekommen ist (3,22), was er in Nazareth in seiner Antrittspredigt mit Hilfe eines Jesaja-Zitats auch bekannt gemacht hat (4,18). In der Apostelgeschichte rüstet der Heilige Geist die christliche Gemeinde aus und sorgt durch Visionen und andere Zeichen dafür, dass die Gesandten Gottes den von Gott gewollten Weg gehen (Apg 10; 16,6.9). Offensichtlich bedarf es immer wieder solcher Nachhilfe, von allein sind die Zeugen des Glaubens trotz ihrer Ausrüstung mit dem Heiligen Geist zu Pfingsten nicht in der Lage, die Pläne Gottes mit der Welt zu erkennen und zu befolgen. In diesem Plan verliert Israel seinen heilsgeschichtlichen Vorrang nicht von selbst, wie sich schon daraus ergibt, dass Paulus trotz steter Ablehnung und häufigen heftigen Widerstands von Seiten „der Juden“ bei seiner Predigt bis zu Apg 28 nicht aufhört, diese bei „den Juden“ zu beginnen. Erst nachdem diese nicht bereit sind, seine Botschaft anzunehmen (vgl. Apg 13,5.14.46–49; 14,1; 16,12–15; 17,1–15 usw.), wendet er sich an die Heiden.
Heil für die Heiden
Dass aber das Heil der Heiden nicht bloßes Zufallsergebnis der Ablehnung der Jesusbotschaft und des Jesuskerygmas durch die Juden, sondern in Gottes Plan bereits enthalten ist, macht Lukas auf zweierlei Weise deutlich. Zum einen lässt er schon den greisen Simeon in 2,30 f. sagen: „Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel“ und bringt so schon zu Beginn der Jesusgeschichte den Bezug des Jesusgeschehens auf Juden und Heiden im Plan Gottes zum Ausdruck. Zum anderen führt er die Ablehnung Jesu durch Israel auf eine schon alttestamentlich belegte Verstockung von Seiten Gottes zurück (Apg 28,26 f.). Deswegen kann er auch als Grund für das Verhalten der Juden in Apg 3,17 Unwissenheit nennen. Das Motiv der Unwissenheit lässt die Möglichkeit besserer Erkenntnis und damit der Umkehr ausdrücklich offen. Die Folge der dauernden Ablehnung der Predigt der Jesuszeugen von Seiten „der Juden“ formuliert Lukas in Apg 28,25–28, und die Feierlichkeit des Ausdrucks mag auf den grundsätzlichen Charakter dieses Entschlusses hinweisen: Das Heil, das Jesus gebracht hat und das seinem Volke galt, ist auf die Kirche aus Juden und Heiden übergegangen.
Heil für Juden und Heiden
Es gilt zwar auch weiterhin den Juden – diese sind also keineswegs nach Lukas irgendwie oder gar grundsätzlich vom Heil ausgeschlossen –, aber es gilt den Juden in gleicher Weise wie den Heiden. Deswegen predigt Paulus nach Apg 28,30 das Evangelium allen, die bei ihm eintreten. Es ist insofern nur konsequent, wenn Lukas nie die Kirche als neues oder wahres Israel bezeichnet. Allenfalls in Apg 15,14 kommt er mit dem Ausdruck „aus den Heiden ein Volk für seinen Namen gewinnen“ einem solchen Verständnis nahe. – Angesichts der Formulierung von Apg 28,30 wird man auch kaum bereits in Apg 13,46 eine grundsätzliche Entscheidung zugunsten der Heiden und gegen die Juden finden können, zumal sich an der Predigt vor den Juden als ersten Adressaten der Missionspredigt im Folgenden auch nichts ändert.
Wenigstens zwei auffällige Besonderheiten des Lukasevangeliums seien abschließend noch erwähnt: Das Zurücktreten des Sühnetodmotivs und die besondere soziale Komponente im Lukasevangelium.
9.6 Die Deutung des Todes Jesu als Sühnetod
Das bei Paulus stark betonte Motiv des Sühnetods ist schon im ältesten Evangelium nicht besonders ausgeprägt und kommt dort nur zweimal vor (Mk 10,45; 14,24), Lukas lässt es in der Parallele zu Mk 10,45 sogar noch fort und bietet es nur in dem doch wohl ursprünglichen sog. Langtext der Abendmahlseinsetzung (22,19 f.; vgl. allerdings auch noch Apg 20,28), dort freilich gleich zweimal, sowohl mit dem Brot- als auch mit dem Kelchwort verbunden. Insofern kann von einem völligen Fehlen des Sühnegedankens bei Lukas keine Rede sein, aber dass er eher am Rande steht, ist festzuhalten. Diese Randexistenz des Sühnetodmotivs bei Lukas sieht man weniger, wenn man den Sühnetodgedanken im dritten Evangelium mit dessen Vorkommen im Markusevangelium vergleicht, als wenn man in die Apostelgeschichte schaut, wo in den Predigten das Heilsgeschehen häufig zusammenfassend unter Hervorhebung der Predigt, des Todes und der Auferstehung Jesu verkündigt, wo aber der Gedanke des Sühnetodes insgesamt nur einmal erwähnt wird. Zwar kennt Lukas auch noch den Gedanken des leidenden Gerechten aus dem Alten Testament und überträgt ihn auf Jesus (22,37), aber auch diese Deutung des Todes Jesu ist nicht besonders betont.
Das Leben Jesu als Grund des Heils
Das dürfte damit zusammenhängen, dass Lukas die Ursache des Heils nicht so sehr punktuell in den Tod Jesu verlagert, sondern dieses in dessen ganzem Leben begründet sieht, wie die zahlreichen Heilsbegriffe schon in der Vorgeschichte zum Ausdruck bringen (1,46–55; 2,11.30–32). Charakteristisch für die Anschauung des Lukas ist die Predigt Petri auf dem Tempelplatz in Apg 3,15: „Den Urheber des Lebens habt ihr getötet, aber Gott hat ihn von den Toten auferweckt.“ Jesus ist der Urheber des Lebens – aber nicht aufgrund eines punktuellen Ereignisses, sondern aufgrund seiner ganzen Existenz, die das Ziel hatte, „zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (19,10). Nicht umsonst bildet Jesus nach Lukas in seinem Erdenleben die Güte Gottes ab und verteidigt sein anstößiges Verhalten mit Hinweis auf die Liebe Gottes zu den Verlorenen (vgl. nur 15,11–32).
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