Eine weitere Konsequenz der Technisierung der Welt besteht nach Ratzinger darin, dass die Umwelt des modernen Menschen so sehr durch die von ihm selbst gemachten Dinge bestimmt ist, dass er mit der ursprünglichen Natur kaum noch in Berührung kommt. Da es aber, wie noch zu zeigen sein wird, für Ratzinger gerade die Natur ist, die den Menschen auf die Vernunft des Schöpfers, auf die göttliche Vernunft in der Wirklichkeit verweist, ist der Mensch durch die Technik von dieser Quelle der Gotteserfahrung abgeschnitten. „Wenn für den Menschen bisher die Begegnung mit der Schöpfungswirklichkeit aufgrund der Durchsichtigkeit der Natur zum Schöpfer hin immer wieder zu einer Quelle unmittelbarer religiöser Erfahrung geworden war, so hat die Technisierung der Welt zur Folge, dass der Mensch kaum noch irgendwo der Naturwirklichkeit selbst in ihrer einfachen Unmittelbarkeit begegnet, sondern auf sie immer nur noch durch das Medium des menschlichen Werks hindurchstößt. Die Welt, mit der er es zu tun hat, ist in all ihren Bezügen eine vom Menschen überformte Welt.“ 46
In dieser Undurchsichtigkeit der Welt für den modernen Menschen, der in ihr nur noch sein eigenes Werk erblickt und nicht mehr das Werk des göttlichen Logos, sieht Ratzinger den eigentlichen Grund für den Atheismus der Neuzeit. Er bezeichnet diesen als ‚neues Heidentum‘ und sieht dessen Grundlage im Unterschied zum alten Heidentum, dessen Zentrum in der Vergöttlichung der Natur bestand, in einer Vergöttlichung der Technik und damit einer Selbstvergöttlichung des Menschen. Das ‚neue Heidentum‘ „unterstellt nicht mehr den Menschen einer für göttlich gehaltenen Natur, sondern anerkennt nur noch den Menschen selbst als Maßstab einer endgültig profanisierten Natur.“ 47Hier zeigt sich also wieder der Charakter der technischen Vernunft, Wahrheit nicht zu empfangen, sondern selbst zu produzieren.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass technische Vernunft für Ratzinger ihren Ursprung im Verlangen des Menschen nach Sicherheit hat. Denn für den archaischen Menschen ist „die Erfahrung der Natur die Erfahrung des Unheimlichen und Bedrohlichen, die unverfügbare Gefährdung, in der unbekannte Mächte wirken, gegen die er sich auf vielerlei Weise zu schützen sucht.“ 48Gegenüber magischen Ritualen erscheint dabei die Technik als die vernünftige Art und Weise, den Menschen vor den unberechenbaren Mächten der Natur zu schützen und sie in eine menschenfreundliche Umgebung zu verwandeln, indem sie die Rationalität der Natur für den Menschen und seine Bedürfnisse nutzbar macht. 49So steht die technische Vernunft im Dienste des Menschseins und hat eine schützende und zugleich befreiende Funktion für den Menschen.
Doch Technik kann sich auch zu einer Bedrohung für diesen entwickeln: Ohne ethische Formung kann das „Werk des Menschen, das ihn sichern sollte … zur eigentlichen Gefahr des Menschen und der Welt zugleich“ 50werden. Der Mensch sieht sich dabei laut Ratzinger zum einen durch seine eigenen technischen Errungenschaften bedroht, wie etwa im Fall der Atombombe. Zum anderen zeigt nun auch die domestizierte und unterworfene Natur „ihre letzte Unbeherrschbarkeit, sie entgleitet der Hand des Zauberlehrlings, der … das rettende ethische Wort nicht mehr findet, das sein eigenes Werk anhalten könnte.“ 51Naturwissenschaftlich-technische Vernunft wird ohne moralische Vernunft also zur „ungebändigten Macht des menschlichen Geistes“ 52, die sich selbst und ihrer Umwelt Schaden zufügt.
1.4 Die Vernunft des Schöpfers als Voraussetzung der positivistischen Vernunft
1.4.1. Die platonische Voraussetzung
Die naturwissenschaftlich-technische Vernunft im Sinne Ratzingers bezieht sich auf die mit den Sinnen fassbaren Dinge, die empirischen Untersuchungen unterzogen und so für den Menschen nutzbar gemacht werden können. Jedoch steht nach Ratzinger keinesfalls die bloße empirische Erfahrung am Ausgangspunkt der Naturwissenschaften, sondern vielmehr die Einsicht in deren Kritikbedürftigkeit. Denn „Naturwissenschaft kam eben dadurch zustande, dass man gelernt hat, die Erfahrung zu kritisieren und über den Sinneneindruck hinauszugehen.“ 53
Diese Behauptung verdeutlicht Ratzinger am Beispiel des Streits um Galileo Galilei , dessen Fronten seiner Ansicht nach ganz anders lagen, als es in der verbreiteten Vorstellung der Fall ist. Denn Galileis Gegner waren Ratzinger zufolge selbst Empiristen, „die die Erfahrung in den Mittelpunkt ihrer Erkenntnistheorie stellten, während Galilei Platoniker war und den Vorrang des Verstandes vor der sinnlichen Erfahrung betonte.“ 54Tatsächlich widerspricht ja die Behauptung Galileis, die Erde kreise um die Sonne, der empirischen Erfahrung des Menschen grundsätzlich, der die Sonne im Osten auf- und im Westen untergehen sieht. Nach Ratzinger waren nicht nur Galilei, sondern z.B. auch Kopernikus und Newton Platoniker. „Ihre Grundvoraussetzung war, dass die Welt mathematisch, geistig strukturiert ist und dass man sie von dieser Voraussetzung her enträtseln kann.“ 55
Moderne Naturwissenschaft beruht für Ratzinger demnach „auf einem Abrücken vom bloßen Empirismus, auf einer Überordnung des Denkens über das Sehen.“ 56Er meint aus diesem Grund in Anlehnung an Jacques Monod sagen zu können, dass „moderne Naturwissenschaft letztlich Platonismus ist, auf dem Vorrang des Gedachten vor dem Erfahrenen, des Idealen vor dem Empirischen beruht und von der Grundvorstellung lebt, dass die Wirklichkeit aus gedanklichen Strukturen gebaut ist und daher im Denken genauer erkannt werden kann als im bloßen Wahrnehmen.“ 57
Es gibt Ratzinger zufolge also eine vorgegebene ‚gedankliche Struktur‘ der Wirklichkeit, welche der Mensch in seinem Denken nachvollziehen kann und welche die notwendige ‚platonische‘ Voraussetzung aller Naturwissenschaft darstellt. 58Der Naturwissenschaftler tut nichts anderes, als diese geistige Struktur des Seins im Experiment nachzuvollziehen. 59„Jedes Experiment geschieht nur, weil vorher die Naturwissenschaft schon eine geistige Vorgabe erarbeitet hat, von der aus sie die Natur stellt, und von der aus sie die Erfahrung erwirken kann.“ 60In der Naturwissenschaft tritt so laut Ratzinger dem aristotelischen Axiom ‚Nihil in intellectu nisi in sensu‘ (‚Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war‘) das platonische ‚Nihil in sensu nisi per intellectum‘ (‚Nichts wird wahrgenommen ohne vorhergehendes Verstehen‘) korrigierend zur Seite, sodass sich beide zur experimentellen Methode vereinen. 61„Das Neue besteht in der Verbindung von Platonismus und Empirie, von Idee und Experiment.“ 62
Wenn Ratzinger davon spricht, dass die Wirklichkeit im Denken genauer erkannt werden könne als im Wahrnehmen, kann man hier einen Vorrang des platonischen Elements vor dem aristotelischen feststellen: Durch das Nachdenken der geistigen Struktur der Wirklichkeit wird die empirische Methode überhaupt erst ermöglicht, das Platonische ist die implizite Voraussetzung aller Empirie.
1.4.2. Der Gott der Philosophen
Die Naturwissenschaft greift also nach Ansicht Ratzingers in ihrer Methode auf die gedankliche Strukturiertheit der Wirklichkeit als ihrer ‚platonischen Voraussetzung‘ zurück. Dadurch trägt sie aber gleichzeitig dazu bei, dass dem Menschen diese geistige Strukturiertheit mehr und mehr vor Augen geführt wird. „Was ehedem tote Materie schien, begreifen wir heute als ein Gebilde voller Geist. Das Feste, die ‚Masse‘, ist im Hineindringen in die Tiefe ihres Baues immer durchsichtiger, immer löcheriger geworden; die ‚Masse‘ entzieht sich uns zusehends, aber immer triumphaler tritt der Geist hervor, der im Zueinander der verborgenen Strukturen unseren armseligen Geist beschämt und begeistert zugleich.“ 63Dieses Erstaunen des Menschen über die fortschreitende Einsicht der geistigen Strukturiertheit des Seins bringt Ratzinger mit einem Zitat von Albert Einstein zum Ausdruck, in welchem dieser seiner Überzeugung Ausdruck verleiht, dass in der Naturgesetzlichkeit „sich eine so überlegene Vernunft offenbart, dass alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist.“ 64
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