Eros und Logos
Literarische Formen des sinnlichen Begehrens in der (deutschsprachigen) Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart
Albrecht Classen / Wolfgang Brylla / Andrey Kotin
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ePub-ISBN 978-3-8233-0090-8
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Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte
Eine Diskussion universeller Lebensbedingungen im fiktionalen Kontext
Albrecht Classen (Tucson, Arizona)
Erotik ist angesagt; sie war schon immer ein zentral menschliches Thema, in der Dichtung, in der visuellen Kunst, in der Musik und in anderen Medien und bewegt sowie begleitet den Menschen in zahllosen Situationen und unter verschiedenen Umständen. Erotik ist von solch grundlegender Bedeutung für alle Kultur, dass es gar keiner besonderen Erklärung bedarf, warum wir hier einen Sammelband mit literaturwissenschaftlichen Studien zu diesem Thema vorlegen und die Beziehung zwischen der Liebeserfahrung und deren poetischen Umsetzung eruieren. Wohin wir auch blicken, entdecken wir erotische Aussagen, Motive, Sujets und literarische oder visuelle Materialien. Menschliches Leben ist getragen von Erotik und erreicht seine eigene Überhöhung mittels erotischer Energie. Es handelt sich dabei um einen ungemein wichtigen Motor in der humanen Existenz, der uns zunächst zutiefst in die materielle Dimension hineinträgt, von dort aber überraschend auf ein spirituelles Niveau katapultiert. Religion, Liebe, Lust, Ästhetik, Philosophie, Spiritualismus und Sinnlichkeit finden sich alle vereint in und bestimmt von Erotik.
Inwieweit in der Vergangenheit über solche Aspekte mehr oder weniger deutlich gesprochen wurde, einschließlich der Sexualität und sogar der Pornographie, herrscht oftmals Unklarheit, weil man sich mit den relevanten Quellen nicht auseinandergesetzt hat, entweder aus Scheu vor heiklen Sujets, die sich dort finden, oder aus selbstverschuldeter Blindheit, denn gewisse Epochen sollen anscheinend allein von einer bestimmten Sichtweise her beurteilt werden. Dies trifft genauso auf das Mittelalter wie auf die Reformationszeit, auf den Barock und die Klassik zu. Die Literaturgeschichte hat uns da oftmals ziemlich starke Scheuklappen aufgesetzt. Betrachtet man sich z.B. die barocke Aneignung des Epithalamium an Palladius und Celerina von Claudius Claudianis (ca. 400 n. Chr.) durch Johann von Besser, Benjamin Neukirch, Christian Hölmanns und einen Anonymus, kann man nur staunen, wie drastisch die menschlichen Geschlechtsorgane und der ersehnte Koitus beschrieben und zugleich metaphorisiert werden (vgl. dazu den Beitrag von Antonius Baehr).
Zugleich gilt aber, dass sich die westliche Gesellschaft immer wieder vehement gegen die öffentliche Behandlung von Erotik oder Sexualität gewandt hat, was zu einem wichtigen literarischen Thema gerade des 19. und 20. Jahrhunderts anwuchs, wobei doch nur natürliche menschliche Triebe unterdrückt wurden, wie die Werke von Frank Wedekind explizit zum Ausdruck bringen (vgl. dazu den Beitrag von Anja Manneck). Besonders problematisch ist dazu stets noch das literarische Bekenntnis zur Homosexualität gewesen, im Mittelalter weitgehend vollständig unterdrückt, ja tabuisiert, selbst im 20. Jahrhundert mit großer Vorsicht gehandhabt, wie z.B. der Roman Lyrische Novelle (1933) von Annemarie Schwarzenbach (1908–1942) gut veranschaulicht (vgl. dazu den Beitrag von Karolina Rapp). In der modernen Großstadt wie Berlin während der 1920er Jahre gewann sie aber erheblich an Bedeutung, auch wenn sie in der Öffentlichkeit umstritten blieb (vgl. dazu den Beitrag von Marlene Frenzel).
Wie es nicht anders zu erwarten war, spielt auch in der neuesten Literatur die Erotik bzw. das Sexuelle eine gewichtige Rolle, weil hierbei die eigene Identität hinterfragt und neu ausgekundschaftet werden kann. Die Spannungen zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen oder einfach zwei Geschlechtstypen, um die Homosexualität bzw. Transsexualität mitzuberücksichtigen, konstituieren unablässig das Medium der Selbsterprobung, wie jetzt die polnischen Romane von Szczepan Twardoch eindringlich vor Augen führen (siehe dazu den Beitrag von Rafał Biskup).
Gleichgeschlechtliche Liebe hat es immer gegeben, ist oft ein Teil der biologischen Struktur des Menschen, auch wenn gerade die Kirchen stets heftig dagegen gekämpft haben. Umso wichtiger ist das literarische Medium gewesen, in dem homoerotische Anliegen durchaus mehr oder weniger codiert häufiger zum Ausdruck gekommen sind. Wie auch immer, menschliche Kultur, Sprache (Logos) und Natur erweisen sich zutiefst von Erotik determiniert, wenn nicht sogar der Logos ein Ausdruck von Erotik sein dürfte, was uns dazu zwingen könnte, die Literaturgeschichte nach ganz anderen als den bisher verfolgten Kriterien (neu) zu schreiben, insoweit als die Sexualität allenthalben auftritt und eine viel wichtigere Rolle einnimmt, als es die Forschung noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wahrhaben wollte. Erotik dient vielmals als eine Brücke zwischen den Kulturen und ist häufig das Bindeglied zwischen fremden Gesellschaften gewesen, wie wir es u.a. in den Romanen Alfred Anderschs (1914–1980), der Renate Ahrens (geb. 1955) und Joseph Zoderers (geb. 1933) beobachten (zum letzteren vgl. den Beitrag von Verena Zankl und Irene Zanol). Die Liebe katapultiert das Individuum aus seinem vertrauten Lebensbereich, aber oftmals findet es sich dann selbst innerhalb der neuen Liebesbeziehung in einer spannungsreichen und konfliktgeladenen Situation. Ist denn Liebe als solches nicht das Fremde schlechthin? Findet nicht derjenige, der liebt, Gott in sich selbst?
In Krisenzeiten wie dem Ersten und Zweiten Weltkrieg intensivierte sich die Erotik beträchtlich, weil die Menschen angesichts des drohenden Todes dazu tendierten, traditionelle Normen zu vernachlässigen und danach strebten, im Hier und Jetzt sexuellen Gelüsten zu frönen. Polnische Romane, die den Ersten Weltkrieg behandeln, illustrieren dieses Phänomen in höchst eindrucksvoller Weise (vgl. dazu den Beitrag von Paweł Zimniak), aber wir entdecken es auch in der deutschen Barocklyrik (siehe die Beiträge von Wolfgang Brylla und Antonius Baehr) oder im Zauberberg (1924) von Thomas Mann. Heinrich Wittenwilers Ring (ca. 1400) kommt uns hier genauso in den Sinn wie Bertolt Brechts Mutter Courage und ihre Kinder (1938/1939). Eros und Thanatos reichen sozusagen einander die Hände in der existentiellen Erfahrung von Extremen in der menschlichen Existenz.
Szczepan Twardoch (geb. 1979) bietet jetzt ein gutes Beispiel dafür in seinem Roman Morphin (2012; siehe dazu die Studie von Rafał Biskup), in dem sozusagen das Goethesche Diktum vom ‚Ewigen Weiblichen‘ neu aufgegriffen und reflektiert wird. Die frühe Liebesdichtung von Rosa Ausländer (1901–1988), die von der Forschung oftmals eher ignoriert worden ist, vor allem weil sie diese Werke lieber nicht publiziert sehen wollte, verdient ebenfalls kritische Aufmerksamkeit, wie Oxana Matiychuk in ihrem Beitrag überzeugend belegt, denn wenngleich Ausländer, wie andere bukowinische Dichter ihrer Zeit, stark auf die romantische Tradition zurückgriff, gelang es ihr hier, fulminant die Liebeserfahrung sprachlich anzusprechen und ausdrucksmächtig zu reflektieren.
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