Der Höhepunkt ist aber erst in der fünften Elegie erreicht, wo Goethe davon berichtet, wie er zwar tagsüber durch Rom streift und die klassische Antike studiert, nachts aber bei der Geliebten liegt und durch die lustvolle Erfahrung mit ihr wesentlich tiefere Erkenntnisse gewinnt als alle theoretischen Studien es ihm sonst ermöglichen würden. Stärkste Sinnlichkeit durchglüht ihn, die es ihm erst ermöglicht, die ästhetische Dimension der alten Ruinen zu begreifen und poetisch selbst schöpferisch zu werden: „Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens / Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab? / Dann versteh ich den Marmor erst recht: ich denk und vergleiche, / Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand.“3 Unverhüllt und ganz selbstbewusst entwirft der Dichter ein Glückserleben höchst erotischer Art, wobei die Schönheit des nackten Frauenkörpers unmittelbar mit der Schönheit der antiken Skulpturen in Verbindung gebracht wird und die erotische Empfindung als Anlass für eine ganze Kette an kreativen Leistungen dient. Der Dichter selbst vermag so erst vollständig die Ideen der Antike zu begreifen und auf diesem Wege innovativ neue Verse zu schaffen. Erotik entpuppt sich damit als ein wesentliches Instrumentarium für die Schaffung neuer Lyrik, neuer Kunst und für die Entwicklung eines neuen Weltverständnisses. In Bezug auf moderne erotische Gedichte definiert Veronika Neumann daher das erotische Element folgendermaßen:
das nachhaltig Affizierende, d.h. das durch die Gestaltung des Gedichtes auf die Lesenden spezifisch erotisch Wirkende, zweitens eine Mittlerstellung des Erotischen zwischen den Bereichen Liebe und Sexualität, drittens der zugleich verhüllende und enthüllende sprachliche Schleier und viertens ein eingeschriebenes Streben.4
Wie wir oben bereits gesehen haben, lässt sich genau diese Begriffsbestimmung auch auf die Werke der älteren Literaturgeschichte übertragen, womit interessante Gemeinsamkeiten kulturhistorischer Art zwischen allen Epochen auftreten. Die Sprache, die Bildlichkeit, die äußeren Umstände, die Freiheit, mit der erotische Aspekte ausgedrückt werden, die Freude am Erotischen schlechthin usw. mögen alle immer etwas unterschiedlich gewesen sein, aber die menschliche Natur ist von jeher erotisch geprägt und bedarf des erotischen Gefühls, um sich voll zu entfalten und die ganze Potenz auszuleben. Der poetische Diskurs bot sich schon immer außerordentlich fruchtbringend für dieses Phänomen an, wie die verschiedenen Studien in unserem Band vor Augen führen.
Der Grat, den wir bei der Diskussion von Erotik beschreiten, erweist sich jedoch als schmal und droht, uns leicht bei einem Fehltritt in den Abgrund abstürzen zu lassen, was nicht unbedingt ein Werturteil darstellen soll. Der Fall von E.T.A. Hoffmanns (?) Roman Schwester Monika (1815) illustriert dies eindringlich, denn an sich befinden wir uns hier schon auf dem Gebiet der Pornographie, so wenn an einer Stelle zu lesen ist: „Er zog ihr die zarten kleinen Lenden voneinander und befriedigte seine Lust so vollständig, als es ihm nur möglich war“ (S. 9), oder: „Ehe noch Franziska sich zu besinnen vermochte, stand sie schon mit nackendem Untertheil vor dem weiblichen Areopag, der, entzückt über die Schönheit ihres Hinterns, mit einem dreymaligen Händeklatschen sein Lob aussprach“ (S. 15).5
Friedrich Schlegels Lucinde (1799) hingegen stellte den Versuch dar, das Erotisch-Sexuelle mit dem Göttlichen zu verschmelzen, was freilich erneut viele im zeitgenössischen Publikum brüskierte (vgl. dazu Andrey Kotins Aufsatz). Der Dichter projizierte jedoch zugleich eine selbständig agierende weibliche Protagonistin, die selbst bestimmt, wie sie sexuelle Lust erfahren will.
Wollten wir aber diese Texttradition weiter verfolgen, kämen wir sofort vom Hundertsten zum Tausendsten, denn sexuell-orientierte Literatur gibt es in Hülle und Fülle bis in die unmittelbare Gegenwart, wie es z.B. der neue Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens Setz (2015) illustriert, in dem das Sexuelle in der Balance zwischen Normalität und Anormalität austariert und der sexuelle Trieb als Urgrund im menschlichen Dasein dargestellt wird (siehe dazu den Beitrag von Maciej Jędrzejewski; vgl. dazu auch die Studie von Rafał Biskup über den oberschlesischen Autor Szczepan Twardoch). Wahre Erotik zeichnet sich hingegen durch die kunstsinnige Verhüllung, das Spiel mit der Andeutung aus und verliert sich nicht in drastischer, rein körperlicher Reflexion über die menschliche Kopulation, was ins Gebiet der Pornographie gehört, die z.B. von Charlotte Roche in erstaunlicher und frecher Art und Weise in ihrem Roman Feuchtgebiete (2014) gestaltet wird. Gehört dies noch zur ‚gehobenen‘ Literatur, oder handelt es sich bereits um einen trivialen Text komerzieller Ausrichtung?
Durchforsteten wir die verschiedensten Anthologien mit Lyrik oder Prosa, relevante literarische Zeitschriften oder selbständige Publikationen, würden wir auf eine große Zahl von mehr oder weniger erotischen Beispielen stoßen, und dies aus praktisch allen Epochen der Neuzeit. Verena Neumann macht u.a. auf Else Lasker-Schüler, Rosa Ausländer (vgl. dazu Oxana Matiychuk), Gottfried Benn (siehe die Untersuchung von Maciej Walkowiak), Marie Luise Kaschnitz oder Günter Kunert aufmerksam6, und wir könnten nun viele weitere Namen hinzufügen, denn das Thema ‚Erotik‘ erweist sich als unerschöpflich, als universal und zeitlos und hat sich stets schon in Dichtung und anderen literarischen Werken niedergeschlagen. Sowohl im Druck als auch online finden sich immer weitere Gedichte und andere Texte, die stark durch Erotik geprägt sind und diese mysteriöse aber zentrale Erfahrung im menschlichen Leben gestalten, ob wir an Christian Morgenstern (1871–1914), Theodor Storm (1817–1888), Rainer Maria Rilke (1875–1926), Klabund (1890–1928) oder eine ganze Menge zeitgenössischer Dichter denken. Selbst vom jungen Karl Marx (1816–1883) ist eine große Zahl von Liebeslyrik bekannt, obgleich deren Qualität eher zu bezweifeln wäre, zeigt sich ja hier dieser später so berühmte Denker als ein Epigone durch und durch, der die späte Romantik in seinen Dichtungen explizit wieder aufleben lässt.7
In der Literatur des Berlins während der Weimarer Republik dominierten Themen wie Prostitution, Vergewaltigung und Homosexualität, denn Sinnlichkeit und Erotik spielten eine zentrale Rolle (vgl. dazu die Beiträge von Marlene Frenzel und Arletta Szmorhun). Durchaus nachvollziehbar war wegen der schweren Lebensbedingungen Erotik im öffentlichen Diskurs nach dem Zweiten Weltkrieg weniger relevant oder präsent, aber die gründliche Durchsicht einschlägiger Publikationen beweist, dass zumindest seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein neues Interesse an und Bewusstsein von Erotik zum Vorschein kam, so wenn wir an Marie Luise Kaschnitz (1901–1974), Günter Kunert (geb. 1929), Karl Krolow (1915–1999), Erich Fried (1921–1988) oder Ulla Hahn (geb. 1946) denken.8
Warum aber fühlen sich so viele Dichter und Autoren von dem Thema ‚Erotik‘ zutiefst angesprochen und gestalten dann Texte darüber? Eine fast töricht zu nennende Frage, die genauso wenig zu beantworten sein wird wie die nach der Relevanz von Tod, nach Gott oder nach dem Sinn des Lebens. Die menschliche Kreatur ist eben wesentlich von dem Bedürfnis durchdrungen, solche esoterischen und doch tangiblen Phänomene sprachlich umzusetzen, womit die eigene Phantasie beflügelt wird und sich freier zu bewegen vermag.9
Natürlich steht das Verlangen nach Genuss dahinter, imaginiertem oder realem, und die poetische Aussagekraft dient dazu, den kruden physischen Sexualakt zu überhöhen und ästhetisch zu steigern, wobei zugleich Glücksempfindung hinzukommt, oft auch religiöse Vision, denn die erotische Kraft transformiert den Menschen und lässt ihn zu einem neuen Wesen heranwachsen. Kein Wunder, dass sich der Liebesdiskurs mit dem damit eng verbundenen Prostitutionsdiskurs des 20. Jahrhunderts überschneidet, wie er von Hans Fallada und Hans Werner Richter in ihren Romanen behandelt wird (vgl. dazu den Beitrag von Arletta Szmorhun).
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