Zu fragen wäre aber sofort, ob es sich überall und zu allen Zeiten um dieselbe parallele menschliche Erfahrung handelt, ob wir also tatsächlich Gemeinsamkeiten bei der Auseinandersetzung mit dem Erotischen feststellen können. Worum handelt es sich bei Erotik an erster Stelle? Natürlich ändert sich dies von Mensch zu Mensch, von Gesellschaft zu Gesellschaft, von kultureller Epoche zur nächsten. Barockdichter haben auf ihre eigene Art das erotische Element in ihrer Lyrik eingesetzt und so dem Thema ihren eigenen Stempel aufgeprägt. Erotik in der Romantik war individuell anders als in der Klassik, und moderne Dichter des 20. und 21. Jahrhunderts bedienen sich neuer, idiosynkratischer Bilder und Interessen, um ihr erotisches Anliegen zu formulieren. Allen gemeinsam bleibt aber, dass die erotische Kraft das Bindeglied zwischen den Geschlechtern ausmacht und dass gerade das poetische Wort dazu dient, dem esoterischen, zugleich aber auch so physisch relevanten Phänomen Ausdruck zu verleihen.
Wählen wir zwei scheinbar sehr weit auseinander liegende Beispiele zum Vergleich und zur Illustration. In einigen der Lieder Oswalds von Wolkenstein (1376/77–1445) vernehmen wir von Badefreuden, die er mit seiner frisch getrauten Frau Margaretha von Schwangau genießt. Obwohl das Lied Kl. 75 Wol auff, wol an offensichtlich mehr für den Privatgebrauch gedacht gewesen sein mag, gehört es trotzdem zu den öffentlich präsentierten Liedern, die in seinen beiden Prachthandschriften A und B (Pergament), später auch in der Papierkopie c, enthalten sind.12 Mehr noch als jemals zuvor sehen wir uns in eine höchst intime, zugleich extrem erotische Situation versetzt, denn das junge Ehepaar vergnügt sich in einer Badewanne, die offensichtlich auf einer Wiese aufgestellt worden ist. Nach einem intensiven, wenngleich immer noch topischen Natureingang, in dem die Vogelschar die frühlingshafte Umwelt bejubelt, melden sich Oswald und Margarethe zu Wort, die sich begeistert gegenseitig berühren und sexuell erregen: „,wascha, maidli, / mir das schaidli!‘ / ‚reib mich, knäblin, / umb das näblin! / hilfst du mir, / leicht vach ich dir das rätzli‘“ (34–39). In der folgenden, dritten Strophe bewegt sich der Blick weg von der Badewanne hin zu den Pflanzen und Geschöpfen auf der Wiese, wo überall Freude und Zufriedenheit herrschen, weil der Winter verschwunden ist und dem lieblichen Mai gewichen ist, worauf alles wieder zu wachsen und zu sprießen beginnt. Erotik und Sexualität durchdringen diese Welt, die kaum deftiger beschrieben werden könnte, ohne ins Obszöne abzugleiten.
Beim folgenden Gedicht, Kl. 76 Ain graserin durch küelen tou , wird man dies aber nicht mehr so sicher betonen wollen, denn der Dichter bedient sich nun einer kaum noch verhüllten Metaphorik, insoweit als die Arbeit beim Heumachen direkt zum sexuellen Austausch überspringt: „Ain graserin durch küelen tou / mit weissen blossen füesslin zart / hat mich erfreut in grüener ou; / dast ir sichel braun gehart“ (1–4). Nachdem der Liebhaber ihr geholfen hat, das Gatter zu richten – eine Metapher, die sich mühelos in ihrer Anspielung ausdeuten lässt –, bemerkt er, dass ihm die Zeit lang wird und es ihn danach dürstet, ihr erneut seinen Dienst anzubieten: „mein häcklin klain hett ich ir vor / embor zu dienst gewetzet, / gehetzet, netzet; wie dem was, / schübren half ich ir das gras“ (14–17). Während sich die beiden dann zusammentun, d.h. miteinander kopulieren, fordert er sie dazu auf, tüchtig mitzumachen: „,zuck nicht, mein schatz!‘ simm nain ich, lieber Jensel‘“ (18), und so geht es dann noch eine ganze Strophe weiter.13 Hat Oswald dabei die Grenze zum Anstand durchbrochen oder ein Meisterwerk der erotischen Lyrik geschaffen? Wer hieran Anstoß nehmen möchte, dem steht dies ganz frei zu, aber es würde nichts an dem hohen Ansehen ändern, dass Oswald genau für diese und andere Lieder genießt, weil sie so frisch autobiographisch wirken und die Dinge schlicht beim Namen nennen.
Außerdem wäre zu bedenken, wie umfangreich zeitgenössische Dichter in Verserzählungen ( mæren ) auf Erotik und Sexualität eingingen, ob wir an Geoffrey Chaucer, Heinrich Kaufringer, Franco Sacchetti oder Poggio Branchetti denken. Einige Beispiele kommen in meinem eigenen Beitrag gesondert zur Sprache, in dem ich aufzeige, inwieweit spätmittelalterliche Dichter auf europäischer Ebene darum bemüht waren, Liebeslust, eheliche Liebe, persönliche Ehre, Geldgier und Profitstreben, Identitätsschwächen gerade männlicher Protagonisten und sozialen Machtkampf zu thematisieren, fast so, als ob sie über unsere eigene Zeit vorausschauend geschrieben hätten.
Eine Gruppe von Beispielen aus der Zeit der Anakreontik, die Gedichte von Friedrich Hagedorn (1708–1754), bietet uns die Möglichkeit, sowohl die Wandlungen als auch die Kontinuitäten in der erotischen Lyrik wahrzunehmen, während Wolfgang Brylla Einschlägiges zur Barocklyrik beitragen wird, in der viel mehr deftige Erotik, ja Pornographie zu finden ist, als man gemeinhin vermuten würde. Stark auf die klassische Antike zurückgreifend (Horaz, Ovid etc.) operiert Hagedorn laufend mit erotischen Anspielungen, ohne dabei jemals schlüpfrig zu werden, auch wenn die Aussagen ziemlich eindeutig erotisch gezeichnet sind. In dem besonders bekannten humorvollen Gedicht Die Küsse (in Fabeln und Erzählungen , Erstes Buch, zuerst gedruckt 1738) erfahren wir, dass sich Elisse jeden Kuss, den sie ihrem Geliebten Coridon gewährt, mit dreißig Schafen bezahlen lässt. Sie gewinnt Geschmack daran und begehrt nun selbst, von Coridon geküsst zu werden, so dass er dreißig Küsse für ein Schaf erwirbt. Allerdings erkalten dann bei ihm die Gefühle, was für sie bedeutet, dass sie ihm alle Schafe zurückgeben muss, um überhaupt noch einen Kuss von ihm geschenkt zu bekommen. Zuletzt aber geht dieses Liebesverhältnis in die Brüche, weil sich Coridon einer neuen Dame zugewendet hat, einer Doris, der er kostenlos seine Küsse gewährt.1 Mit am intensivsten mag aber Hagedorn der musa iocosa gefrönt zu haben, als er das Gedicht Der Blumenkranz verfasste, in dem wir erneut auf zwei Liebende stoßen, die sich in freier Natur aufhalten und miteinander zu schäkern beginnen, was schließlich zu den letzten erotischen Freuden führt, über die das poetische Wort aber verschwiegen wird: „Hier schließt sich Buch und Wald / sie huelfreich zu verstecken“ (Erstes Buch, S. 148).
Ganz ähnlich wie bei Walther bekommen wir freilich nur Andeutungen mitgeteilt, denn Hagedorn gelingt es genauso gut wie seinen Vorläufern, die Erotik in der Schwebe zu halten, wenn er zum Abschluss formuliert:
Man glaubt/sie thaten dieß/was einst Aeneas that /
Als Dido und der Held in einer Hoehle waren.
Was aber thaten die? Wer das zu fragen hat /
Der ist nicht werth, es zu erfahren. (S. 148).
Hagedorn bietet die gesamte Palette einschlägiger poetischer Sinnbilder und Motive, Themen und Stoffe auf, um sein Anliegen, Liebe, sexuelle Erfüllung, physische Freuden, Gesang und körperliche Schönheit zu besingen und wird damit zu einem der hervorragendsten erotischen Dichter seiner Zeit. Die Antike wirkte natürlich stark auf ihn ein, aber er besticht noch heute durch seine unbändige Lust daran, das Leben in vollen Zügen so zu genießen, dass die Erotik zwar voll ausgeschöpft werden kann, aber ohne die Grenzen des öffentlichen Anstands zu übertreten.2 Und von hier könnten wir mühelos auf viele zeitgenössische deutsche, französische, italienische oder auch außereuropäische Autoren ausgreifen, ohne zu wesentlich anderen Ergebnissen zu kommen, denn der erotische Diskurs übte allenthalben zutiefst Attraktion aus, wurde aber von Epoche zu Epoche unterschiedlich ausgeprägt.
Springen wir von hier zu Goethes Römischen Elegien , die während seines Aufenthalts in der Ewigen Stadt und auf der Reise durch Italien 1786–1788 bzw. unmittelbar im Anschluss daran entstanden sind. Bereits die erste Elegie endet mit den vielsagenden Versen: „Eine Welt zwar bist du, o Rom; doch ohne die Liebe / Wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom“.1 In der zweiten Elegie betont er sogleich, welch attraktive Position er bei der römischen Geliebten einnimmt, im Gegensatz zu den Einheimischen: „Mutter und Tochter erfreun sich ihres nordischen Gastes, / Und der Barbare beherrscht römischen Busen und Leib“. Mit deutlichem Rückgriff auf die römische Antike, d.h. wiederum auf Ovids Metamorphosen 2, hebt Goethe in der dritten Elegie das dort gebotene Vorbild für die unerwartete und überwältigende Liebeserfahrung, die sich aus der günstigen Gelegenheit ergibt, wie die vierte Elegie umschreibt, hervor.
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