1 ...7 8 9 11 12 13 ...26 Erwähnt werden muss an dieser Stelle auch Ratzingers Beobachtung eines impliziten Verweises auf den subjektiven Charakter der Wirklichkeit in der Rede der Naturwissenschaftler: „Auch die verbissensten Neodarwinisten, die jeden finalen, zielgerichteten Faktor aus der Entwicklung ausschalten wollen, um ja nicht in den Verdacht der Metaphysik oder gar des Gottesglaubens zu geraten, reden mit der größten Selbstverständlichkeit immerfort von dem, was ‚die Natur‘ tut, um jeweils die besten Durchsetzungschancen wahrzunehmen.“ 131Die Natur wird für Ratzinger hier mit Gottesprädikaten bedacht und ganz ähnlich der alttestamentlichen Figur der Weisheit als „bewusst und äußerst vernünftig handelnde Größe“ 132verstanden. ‚Die Natur‘ oder ‚die Evolution‘ gibt es aber als Subjekt gar nicht, sondern es handelt sich nach Ratzinger dabei um einen sprachlichen Behelf zur Zusammenfassung einer Reihe von Vorgängen innerhalb der Natur. Es scheint ihm aber „offenkundig, dass dieser – vielleicht unverzichtbare – sprachliche Behelf gewichtige Fragen in sich enthält.“ 133
An anderer Stelle geht Ratzinger weiter, wenn er fragt, „ob irgendetwas an dieser ganzen Theorie noch heil bliebe, wenn man diese Fiktion strikt verbieten und auf ihre konsequente Ausschaltung dringen würde. In der Tat würde kein logischer Zusammenhang mehr bestehen bleiben.“ 134Der Gedanke des subjektiven Charakters der Wirklichkeit und damit der Schöpfungsgedanke ist nach Ansicht Ratzingers in der Sprache der Naturwissenschaft also schon implizit enthalten und zeigt sich auch auf diese Weise als die notwendige Voraussetzung der naturwissenschaftlichen Vernunft.
1.4.5. Der Primat der Vernunft
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Evolutionstheorie nach Ratzinger dann unvollständig und unlogisch bleibt, wenn sie „ihre eigenen Lücken überspielt und die über die methodischen Möglichkeiten der Naturwissenschaft hinausreichenden Fragen nicht sehen will.“ 135Sie muss anerkennen, dass diese Fragen, die innerhalb ihrer selbst aufgeworfen werden, nicht innerhalb ihrer selbst zu lösen sind. Sie verweisen vielmehr auf eine Rationalität der Natur, die sich nach Ratzinger zum einen in der Lesbarkeit der Materie zeigt, zum anderen im Entwicklungsprozess als Ganzem, der „trotz seiner Irrungen und Wirrungen durch den schmalen Korridor hindurch“ 136für ihn etwas Rationales darstellt.
Es geht Ratzinger also im Kern um die Einbettung der Evolutionstheorie in ein rationales Ganzes. Das scheinbar Unvernünftige wird vom Vernünftigen umgriffen und so als im Prinzip vernünftig erkannt. „Letzten Endes geht es um eine Alternative, die sich bloß naturwissenschaftlich und im Grunde auch philosophisch nicht mehr auflösen lässt. Es geht um die Frage, ob die Vernunft bzw. das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grunde steht oder nicht. Es geht um die Frage, ob das Wirkliche aufgrund von Zufall und Notwendigkeit … also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob also die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: In principio erat verbum – am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft.“ 137Dies ist die Kernfrage, die den Vernunftbegriff Ratzingers charakterisiert und auf die man in dieser Arbeit in verschiedenen Variationen immer wieder stoßen wird: Gibt es ein vernünftiges Prinzip, das die Wirklichkeit strukturiert und auf das wir uns als Menschen mittels unserer Vernunft beziehen können, oder ist die Wirklichkeit im Ganzen unvernünftig und unsere eigene Vernunft nur ein Zufall der Evolution?
In Bezug auf die naturwissenschaftliche Vernunft lässt sich die Frage, wie schon gesehen, so ausdrücken: Ist die Evolutionstheorie die alles bestimmende Theorie der Wirklichkeit oder muss sie sich in eine ihr übergeordnete, rationale Struktur einordnen lassen? Es wurde deutlich, wie Ratzinger auf der Basis der naturwissenschaftlichen Vernunft für die letztere Alternative argumentiert: Naturwissenschaftliche Vernunft wird seiner Überzeugung nach erst durch den Bezug auf eine ihr vorgegebene vernünftige Struktur der Wirklichkeit möglich. Durch ihre Arbeit bringt die Naturwissenschaft diese vernünftige Struktur der Wirklichkeit mehr und mehr zum Vorschein. Außerdem lässt sich auch die Evolutionstheorie laut Ratzinger nur unter der Voraussetzung dieser Annahme einer ihr übergeordneten Vernunft erklären.
Der Primat der Vernunft vor dem Unvernünftigen ist somit für Ratzinger von der Naturwissenschaft her evident. Doch er geht sogar noch einen Schritt weiter: Ist die Rationalität der Wirklichkeit erst einmal anerkannt, gelangt man notwendig zur Frage, woher diese Rationalität stammt und somit zum Verweis auf den Schöpfer. „Die Naturwissenschaft kann und darf darauf nicht direkt antworten, aber wir müssen die Frage als eine vernünftige anerkennen und es wagen, der schöpferischen Vernunft zu glauben und uns ihr anzuvertrauen.“ 138Die naturwissenschaftliche Vernunft kann durch ihre Einsicht in die gedankliche Struktur der Wirklichkeit somit nach Ratzinger den Menschen auf den Schöpfungsglauben verweisen, sodass er mit Bonaventura sagen kann: „Wer hier nicht sieht, ist blind, wer hier nicht hört, ist taub, und wer hier nicht anfängt anzubeten und den Schöpfergeist zu lobpreisen, der ist stumm.“ 139
Doch nicht nur die naturwissenschaftliche Vernunft des Menschen hat Ratzinger zufolge einen Zugang zum Logos des Schöpfers. Im nächsten Kapitel soll gezeigt werden, dass sich nach Ratzinger auch das moralische Denken des Menschen auf dieses kosmische Vernunftprinzip beziehen kann. Dieses vermittelt dem Menschen also nach Ansicht Ratzingers nicht nur theoretische, sondern auch praktische Wahrheit. Am Anfang seiner Schaffenszeit setzte sich Ratzinger allerdings zunächst sehr kritisch mit einer solchen moralischen Wahrheitserkenntnis des Menschen, die ihm Erkenntnis des ‚von Natur her Rechten‘ vermitteln könnte, auseinander.
1 Einführung , 35. Die zahlreichen Bezugnahmen Ratzingers auf andere Autoren wie z.B. auf Vico können im Rahmen dieser Arbeit nicht kritisch verfolgt werden, d.h. es wird nicht im Einzelnen geprüft, ob Ratzinger dem jeweiligen Autor in der Wiedergabe seiner Position tatsächlich gerecht wird.
2 Einführung , 37.
3 Einführung , 37.
4 Einführung , 37.
5 Einführung , 38.
6 Einführung , 38; vgl. auch Gottes Projekt , 65.
7 Geschichtlichkeit der Dogmen , 62.
8 Theologische Prinzipienlehre , 16.
9 Einführung , 38.
10 Einführung , 39.
11Vgl. Einführung , 40.
12Einführung, 40.
13 Eschatologie , 32.
14 Eschatologie , 32.
15 Dogma und Verkündigung , 88.
16 Dogma und Verkündigung , 89.
17Vgl. Krise der Verkündigung , 212.
18 Dogma und Verkündigung , 89.
19 Glaube – Wahrheit – Toleranz , 127.
20 Zeichen der Frau , 109.
21 Gottes Projekt , 34.
22 Dogma und Verkündigung , 90.
23 Einführung , 34.
24 Schöpfung und Evolution , 151.
25 Dogma und Verkündigung , 90.
26 Einführung , 34.
27 Letzte Sitzungsperiode , 48f; vgl. auch Auf Christus schauen , 19.
28 Dogma und Verkündigung , 195f.
29 Einführung , 39.
30 Einführung , 40.
31 Einführung , 39.
32 Einführung , 41.
33Vgl. Geschichtlichkeit der Dogmen , 63; Einführung , 38f.
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